# taz.de -- Christa Pfafferott Zwischen Menschen: Und dann ist sie plötzlich w… | |
Ein Abend, an dem wir alle in die gleiche Richtung schauen. Zu mehreren | |
sitzen wir auf einem langen Sofa, die meisten sind junge Studierende. Ein | |
Freundespaar von mir veranstaltet jeden zweiten Montag Kinoabende bei sich. | |
Es sind besondere Abende, an denen die Anforderungen der Welt draußen | |
bleiben. | |
Manchmal lasse ich während dieser Vorführungen meinen Blick über die | |
Gesichter schweifen, die erleuchtet vom flackernden Filmlicht zur Leinwand | |
blicken. Ich kenne nicht alle Gesichter, einige Leute, die kommen, | |
wechseln. | |
Ich versuche mich an einen Abend vor ein paar Wochen zu erinnern, als wir | |
„Toy Story“ schauten. War es dieser Abend oder doch ein anderer? Einmal kam | |
eine junge Frau später aus dem Dunkeln der Tür auf uns zu. Wir waren schon | |
vertieft in den Film und sie setzte sich dazu. Sie brachte das Leben und | |
die Luft von draußen in den dämmrigen Raum. Ich habe kaum noch eine | |
Erinnerung an sie. Nur dass da plötzlich dieser Mensch dazukam. Dass sie | |
sich noch spät auf den Weg gemacht hatte, obwohl die Vorführung schon | |
begonnen hatte. Als dann am Ende das Licht anging, fiel mir auf, dass diese | |
Frau aus dem Dunkeln auffallend schön war. Erinnere ich mich richtig? War | |
es wirklich sie? Ich musste kurz darauf zum Zug. | |
Ein paar Wochen später fahre ich am Bahnhof an einer Ampel vorbei, an der | |
Blumen und Kerzen stehen. Heute ist wieder Kinoabend. Heute wollen wir der | |
jungen Frau gedenken, die an dieser Ampel ums Leben kam, zusammen mit einer | |
Freundin. Hier haben sie vor zwei Wochen auf Grün gewartet, als ein Auto in | |
sie hineinfuhr. Die beiden Frauen starben. Ein weiterer Junge und der | |
Fahrer überlebten verletzt. Ich wage kaum zu der Stelle zu blicken. Ein Ort | |
des Alltags, den viele Menschen passieren, wo es jeden hätte treffen | |
können. | |
Eine der beiden jungen Frauen, die hier starben, war bei den Kinoabenden | |
dabei. Heute schauen wir ihr zu Ehren einen Film, für den sie damals als | |
einzige abgestimmt hatte: „Das war sie, weißt Du noch? Die damals noch spät | |
gekommen ist, die plötzlich auftauchte“, sagt die Gastgeberin. „Und sie hat | |
etwas zu Essen mitgebracht. Wie nett.“ Etwas daran lässt mich nicht los. | |
Ich kannte die Frau nicht, die an der Ampel verstarb und die mit uns auf | |
dem großen Sofa saß. Sie kommt mir rückblickend wie eine Erscheinung vor, | |
die sich aus dem Dunkel dazusetzte. Und jetzt ist sie plötzlich weg. | |
Herausgerissen aus dem Leben. | |
Ich verspüre eine unbestimmte Unruhe um diese Leerstelle. Sie ist nicht | |
mehr da, bevor sie richtig da sein konnte. Verschwunden, bevor ich sie | |
kennenlernte. Aber es ist nicht nur das. Ich spüre etwas größeres | |
Verschobenes, was ich nicht begreife. | |
Ich beginne nach ihr zu recherchieren. Im Internet finde ich eine | |
Traueranzeige. Die junge Frau ist fünf Tage nach ihrem 28. Geburtstag | |
gestorben. Ihre Familie schreibt in der Anzeige: „Du warst immer unser | |
Sonnenschein. Das Leben ist nicht fair!“ Darunter die Bitte, keine | |
Trauerkleidung zur Beerdigung zu tragen. Sie habe Farben so geliebt. | |
Ich scrolle im Chat-Verlauf der Kinogruppe bis zu dem Abend vor zweieinhalb | |
Monaten, als wir „Toy Story“ schauten. An dem Abend hatten mehrere | |
abgesagt. „Ich komme noch nach“, schrieb sie. Sie habe sich verquatscht und | |
die Zeit vergessen. Ich denke, wie schön, dass sie sich damals noch auf den | |
Weg machte. | |
Und ich spüre die Endgültigkeit des Todes, die auf einmal hart ins Leben | |
schneidet, ohne Vorahnung. Dass wir bei aller Ungeheuerlichkeit um das | |
Wissen des Todes unseren Alltag leben, uns weiter auf den Weg machen. Es | |
war ein schöner Abend damals. | |
Nach dem Film sage ich dem Gastgeber, dass es mich erschüttert, dass der | |
Mensch, der da vor Kurzem mit uns saß, nicht mehr da ist. Wie wir alle | |
nichts davon ahnten. Der Freund schaut mich an: „Ja, jetzt ist sie nicht | |
mehr da. Aber an diesem Abend war sie da. Es waren 28 Jahre. Diese 28 Jahre | |
war sie da.“ | |
12 Jul 2024 | |
## AUTOREN | |
Christa Pfafferott | |
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