# taz.de -- Weiterdenken mit Joschka Fischer: „Die Welt ist gnadenlos“ | |
> Ist der Westen erledigt, Herr Fischer? Der rotgrüne Ex-Außenminister | |
> spricht im taz-FUTURZWEI-Interview über Europas schwierigen Zukunftsweg. | |
Bild: Europa müsse nun selbst zur „Macht“ werden, meint Joschka Fischer | |
[1][taz FUTURZWEI] | Der 1948 in Gerabronn (Baden-Württemberg) geborene | |
Metzgersohn Joschka Fischer war Bundesaußenminister der rot-grünen | |
Regierung von 1998 bis 2005. Davor war er Fraktionsvorsitzender der Grünen | |
im Bundestag und Landesminister in Hessen, in den 1970er-Jahren noch | |
Berufsrevolutionär. Heute lebt er in Berlin und leitet die Beratungsfirma | |
Joschka Fischer & Company. | |
taz FUTURZWEI: Herr Fischer, in welchem Alter haben Sie zum ersten Mal | |
verstanden, was der Westen ist? | |
Joschka Fischer: Emotional habe ich den Westen recht früh begriffen. Ich | |
gehöre zu einer Generation, die im Schatten des Zweiten Weltkriegs geboren | |
und aufgewachsen ist. Bei mir war das in der amerikanischen Besatzungszone, | |
und die amerikanischen G.I.s waren einfach cool im Verhältnis zu den | |
Kommissköpfen, welche die Ehre hatten, unsere Väter zu sein. Es war einfach | |
Swing. Glenn Miller. Das war eine Form von Musik, die es bis dahin in | |
Deutschland für mich nicht gab. Und dann war da auch das Lässige. | |
War es Liebe auf den ersten Blick? | |
Es zog mich einfach an. Dann kam – da war ich immer noch ein kleiner Junge | |
und sogar meine älteste Schwester war hin und weg – Elvis! Also der Rock | |
‘n‘ Roll. Ich hatte da überhaupt kein Verhältnis dazu. Aber ich fand es | |
gut. Und die alten Kommissköpfe waren dagegen. Auch das hat mich eher davon | |
überzeugt. Und dann kam der Vietnamkrieg. Das war der Bruch. | |
In der Folge des US-amerikanischen Angriffs auf Nordvietnam und der | |
Protestbewegung von 1968 haben Sie sich von den USA abgewandt. | |
Es war der ganz große Bruch, aber nicht von der amerikanischen Kultur, vom | |
amerikanischen Lifestyle, von der amerikanischen Popmusik. Bob Dylan war | |
für mich wichtiger als Karl Marx. | |
Aber der war ja auch westkritisch. | |
Ja, aber zum Westen zu gehören, bedeutet, Kritik zu bejahen. Auch Kritik an | |
einem selbst. Das zumindest ist mein Verständnis. Es ist ja keine | |
Ideologie, die man sich vor den Kopf nagelt. | |
Eigentlich reden Sie von einem kulturellen Westen. | |
Der war und ist enorm attraktiv. | |
Super attraktiv. | |
Das ist Softpower. Das ist auch Macht. Die kulturelle Überlegenheit, etwa | |
die Attraktivität von Coca-Cola: Das darf man nicht unterschätzen. Ich | |
glaube, das hat für den Erfolg im Kalten Krieg sehr viel beigetragen. Das | |
hat Sehnsuchtsorte geschaffen. Die Musik, der alltägliche Lifestyle. All | |
das. | |
Die spannende Frage, auch Ihrer Biografie, ist ja, wie sich der kulturelle | |
Westen in der Wahrnehmung gegenüber dem politischen Westen verhält, etwa | |
Imperialismus und Kolonialismus. | |
Es gehört alles dazu. Freiheit und auch die Sklaverei gehören dazu. Die | |
Bürgerrechtsbewegung in den 60er- und 70er-Jahren in den Südstaaten. | |
Die Bewegung von 1968, zu der Sie gehörten, war doch eine Distanzierung vom | |
Westen? | |
Die AfD heute will weg vom Westen, weg von Amerika, zurück hinter Adenauer | |
und der Westbindung Deutschlands. Für mich war das damals eher die große | |
Annäherung. 1968 in Paris. Dany kommt nach Frankfurt. | |
Daniel Cohn-Bendit, der die 68er-Bewegung in Paris anführte und von de | |
Gaulle in der Folge aus Frankreich ausgewiesen wurde. | |
Es war ein bedeutendes Ereignis für mich, als er kam. Der Mai 1968 in | |
Frankreich war schon eine große Annäherung. Die Multikulturalität nahm zu. | |
Man hat Freundschaften geschlossen. Italienische Freunde, französische | |
Freunde, englische Freunde. | |
War die Linke dieser Zeit nicht in vielen Dimensionen total anti-westlich? | |
Ich glaube, Antiamerikanismus trifft es besser. Nun war ich kein Freund der | |
offiziellen Politik der USA. Aber antiamerikanisch war ich aufgrund der | |
kulturellen Nähe und ihrer Attraktion nie. Das Problem war, dass ich mir | |
Reisen nach Amerika schlicht und einfach finanziell nicht leisten konnte. | |
Damals war das nicht so einfach. | |
Wurden Sie denn als Außenminister nicht völlig desillusioniert von den USA? | |
Ich habe mehr als einmal erlebt, dass es ohne Amerika nicht geht. Nehmen | |
Sie doch nur mal die Balkankrise in den 90ern: Waren die Europäer in der | |
Lage, jenseits ihrer kurzsichtigen nationalen Interessen, irgendwas zu | |
machen ohne die USA? Nein. | |
Gibt es heute noch die kulturelle Attraktion der USA? | |
Amerika ist nach wie vor der dominante kulturelle Faktor. | |
Für uns im Westen oder weltweit? | |
Wenn Sie sich asiatische Städte anschauen: Das neue Peking ist ein Nachbau | |
amerikanischer Städte. Die amerikanisch beeinflusste Jugendkultur | |
verbreitet sich durch das Internet. | |
Naja, wir haben ja die These nicht exklusiv, dass es geopolitisch, normativ | |
und vielleicht auch kulturell einen Dominanzverlust des Westens gibt. | |
Jetzt definieren Sie erstmal den Westen. | |
Der Westen der Nachkriegszeit ist ein Modell, das aufgrund der Verfasstheit | |
von Staat und Gesellschaft Freiheit realisiert und gleichzeitig | |
Rechtsnormen und auch so etwas wie Menschenrechte etabliert. In der | |
Selbstwahrnehmung des Westens war damit der Anspruch verknüpft, dieses | |
Programm weltweit zu verbreiten. Es gibt heute aber mehr Autokratien als | |
Demokratien. | |
Aus meiner Sicht ist der Westen historisch entstanden durch die Öffnung der | |
Seewege durch die Europäer. Was war Europa vor 1492? Abgelegen, isoliert | |
vom eurasischen Superkontinent. Mit der Öffnung der Seewege durch Christoph | |
Kolumbus und dann durch die Portugiesen nach Indien kam Europa aus einer | |
extremen Randlage und auch einer extremen Armut in eine Mittellage. Diese | |
Mittellage hat den Westen geschaffen. Ohne die Öffnung zur Welt, ohne den | |
Reichtum der Kolonien, und dem nachgebauten Europa in den Vereinigten | |
Staaten, wäre vermutlich die Entwicklung in Europa eine ganz andere | |
geworden. | |
Dieser Westen ist aufgebaut auf die Erschließung neuer Welten, neuer | |
Märkte, Ausbeutung von Natur und der Generierung von Wohlstand, mit der man | |
das Gesellschaftsversprechen des Fortschritts halten kann. | |
Dieser Westen ist heute im Abstieg. Das gilt vor allen Dingen für uns | |
Europäer. Wir sind in einer entscheidenden Phase. Wenn wir diese | |
verspielen, dann war‘s das mit dem europäischen Westen. | |
Heißt? | |
Technisch sind wir dabei, abgehängt zu werden von den USA und China, | |
aufgrund unserer eigenen Schlafmützigkeit! Europa ist zudem der Kontinent | |
der Kleinräumigkeit. Aus meiner Sicht hat der europäische Nationalstaat | |
keine Zukunft. Er ist zu klein. Aber die Europäer halten zäh an ihm fest. | |
Schauen Sie nach Argentinien. Das war nach dem Zweiten Weltkrieg eines der | |
reichsten Länder. Dann kam ein Absturz ohne Ende. Das kann passieren. | |
Dieses westliche Projekt, des modernen, freiheitlichen Staates und der | |
offenen Gesellschaft ist unter Stress. Wo gibt es politische Akteure, die | |
es so modernisieren, dass es kulturell attraktiv ist, politisch überzeugend | |
und sicherheitspolitisch funktioniert? | |
Europa ist vieles, aber es ist eines nicht: Es ist keine Macht. Zumindest | |
jenseits der Wirtschaft und da auch immer weniger. Und Putin stellt uns im | |
Moment die Machtfrage. | |
Wir haben keine Mittel, darauf zu antworten. | |
Doch. Die Mittel sind bekannt. Einigkeit und militärische Stärke zur | |
Abschreckung. | |
Sie haben in einem Interview gesagt, wenn Trump Präsident wird, hilft nur | |
noch der liebe Gott. | |
Ich meinte damit: Wir müssen uns selber helfen. Es geht nicht anders. | |
Was heißt das für europäische Außenpolitik? | |
Wir müssen militärisch so stark werden, dass wir uns selbst verteidigen | |
können. Das wird wohl eine Dekade dauern. Und das muss auch finanziert | |
werden. Das Geld würde an anderer Stelle fehlen, leider. | |
Dafür haben wir auch keine Kultur. Eine Kultur der Prioritäten. | |
Wenn es um alles geht, dann ergibt sich die Priorität von selbst. | |
Das sagen Sie immer, dass das unter dem Druck der Verhältnisse alles | |
passieren wird. | |
Es ist doch so. | |
Aber schön wär‘s, wenn es ein Mindestmaß an vorausschauender Vernunft gäb… | |
Gibt es nicht. Was wir jedenfalls gegenwärtig erleben, ist die Ablösung | |
einer Weltordnung durch eine andere. Und das wird eine lange Übergangszeit | |
bedeuten mit viel Chaos. | |
Was ist die neue Weltordnung? | |
Was dahin geht, ist die Pax Americana, eine von den USA dominierte und | |
durchgesetzte Weltordnung. Und wodurch wird sie abgelöst? Durch Chaos und | |
Rivalität großer Mächte. Der Krieg in der Ukraine. Der Krieg in Gaza. | |
Stellen Sie sich vor, Taiwan würde auch noch in einem Krieg enden. Nicht zu | |
vergessen, Kim Jong-un. | |
Dass unsere Zukunft globales Chaos ist, scheint uns im bundesdeutschen | |
Bewusstsein nicht angekommen. Stimmung ist eher: Wäre doch viel schöner, | |
könnten wir unser Modell beibehalten, weniger arbeiten und die Renten | |
erhöhen. | |
Ja, schöner wäre es, aber danach hat niemand gefragt. Geschichte ist kein | |
Beauty Contest. Im Gegenteil, es werden sehr ernste Fragen aufgeworfen. | |
Welche Rolle wird Europa zukünftig spielen? Und ich sage Ihnen: Die Antwort | |
hängt nur von uns ab. | |
Ja, wirklich? | |
Unsere Rolle hängt davon ab, ob wir endlich anfangen, strategisch zu denken | |
und zu handeln. Es hängt nur von uns ab, ob wir Europäer begreifen, dass | |
die Zeiten nationalstaatlicher Herrlichkeit vorbei sind, weil schlicht und | |
einfach die Größenordnungen nicht mehr stimmen. Ich sag es nochmal: Wenn | |
die Europäer nicht wollen, dann war‘s das in diesen Zeiten eines radikalen | |
technischen und politischen Umbruchs. | |
Wo sind die politischen Akteure, die können und wollen? | |
Jede Herausforderung sucht ihr Personal und findet es in der Regel auch. | |
Das hieße ja, die Herausforderung hat sich Olaf Scholz ausgesucht? | |
Einem Menschen wie Adenauer war auch nicht auf seine alten Tage in die | |
Wiege gesungen, dass er mal die Kernfrage des Deutschen Reiches lösen wird, | |
nämlich die Westbindung. | |
Sie weichen aus. | |
Nö. Warum? | |
Weil die Frage doch ist, ob Olaf Scholz nicht eher die Verweigerung der | |
Herausforderung ist. | |
Ich will mich zur aktuellen Politik nicht äußern. Ich bin der Ansicht, dass | |
der Druck von außen eine wichtige Rolle spielen wird, sprich: Putin. Wenn | |
wir uns nur mal überlegen, was wir für Diskurse heute in Deutschland haben. | |
Dafür wärst du doch noch vor drei oder vier Jahren gekreuzigt worden. | |
Wir sind etwas realitätsnäher geworden. | |
Ja. | |
Wobei die Frage der Umsetzung ja doch sehr offen ist. | |
Das braucht seine Zeit. | |
Geschichte funktioniert so, dass bestimmte Akteure in eine Rolle kommen, wo | |
sie zu Entscheidungen, zu Handlungen gezwungen sind, die sich | |
möglicherweise hinterher als wegweisend herausstellen. Es kann aber auch | |
sein, dass sie historisch überfordert sind – und aktuell, dass Europa sehr | |
überfordert ist. | |
Vor allem Deutschland und Frankreich. Dieses aktuelle Verhältnis verstehe | |
ich überhaupt nicht. Da tobt ein Krieg gegen die Ukraine, gegen Europa. Und | |
die beiden führenden Nationen leisten sich Regierungschefs, die egomanische | |
Bauchtänze aufführen. Das ist ein großes Problem, vor allen Dingen in | |
Deutschland. Wir haben keine strategische Kultur, wir haben keine | |
historische Kultur in der Bundespolitik. Aus verständlichen Gründen. Mit | |
dieser Geschichte und dem zweimaligen gescheiterten Griff nach der | |
Weltherrschaft ist alles schwierig. | |
Emmanuel Macron versucht doch, über die Abhängigkeit von den USA hinaus zu | |
denken, um die anderen ein bisschen anzuschieben. | |
Ich schätze ihn sehr. Die Franzosen haben auch ihr Paket zu tragen, weil | |
sie immer noch die Illusion der Grande Nation haben. Aber auch sie hängen | |
von Amerika ab, wie alle anderen Europäer. Und wenn wir es nicht schaffen, | |
zusammenzukommen, ist die Alternative Unterwerfung. Nicht mehr für mich, | |
aber für die Jüngeren. Auf die junge Generation kommt viel zu. Die werden | |
es ausbaden müssen. | |
Negatives Szenario: Donald Trump wird Präsident, die Ukraine verliert den | |
Krieg. Was passiert dann? | |
In Amerika hat ein Rethinking begonnen. Ich glaube, selbst im Trump-Lager | |
haben einige Leute begriffen, dass eine Niederlage der Ukraine mit den USA | |
nach Hause geht. Eine Niederlage der Ukraine bedeutet einen Sieg Russlands | |
und der nordasiatischen Allianz China-Russland. Ist das im Interesse der | |
USA? | |
Könnte Trump das nicht so verkaufen? | |
Nein, das kann selbst Trump nicht. Das wäre fast eine Kapitulation, bezogen | |
auf ihren Status als Supermacht. Insofern bin ich da etwas optimistischer. | |
Wenn doch, wäre der Westen erledigt? | |
Der europäische Teil des Westens. | |
Sie sagen doch, die USA als Supermacht wären dann auch erledigt. | |
Ihr Prestige wäre schwer angeschlagen, aber sie haben die Power, | |
zurückzukommen. Wir nicht. | |
Wir Europäer wissen aber nicht, dass wir erledigt wären, wenn die Ukraine | |
verliert. | |
Okay, ich weiß es. Vor allem: Dann wird Putin weitermachen. Weiter in den | |
Westen gehen. Dann wird er aus meiner Sicht auch NATO-Bündnisgebiet | |
angreifen. Und damit wird es für uns sehr ernst. Ich glaube, das wird der | |
Augenblick sein, in dem die ganzen Fiskalkonservativen die Segel streichen | |
werden. Hoffentlich nicht zu spät! | |
Sie halten diese Leute für intelligent? | |
Nein, ich halte sie für schmerzempfindlich. Wenn Sie die Hitze am | |
Allerwertesten spüren, dann bewegen sie sich. | |
Wer von den maßgeblichen politischen Akteuren in Europa ist in der Lage, | |
das alles zu überblicken? | |
Das kann ich nicht beantworten, weil ich es nicht weiß. Ich glaube, Sie | |
unterschätzen auch Frau Baerbock und Herrn Habeck. | |
Die Grünen? | |
Das erstaunt mich auch, aber in Deutschland sind es vor allem grüne | |
Spitzenpolitiker, die mir einfallen. Friedrich Merz weniger. | |
Die Partei hinter Habeck ist auch noch nicht in der neuen Realität | |
angekommen. | |
Aber sie ist auf dem Weg. | |
Am westlichen Ende des Westens, also in Kalifornien, schauen die Leute | |
Richtung pazifischen Raum, wenn sie nach vorn schauen – nicht in Richtung | |
Europa. Wir sind aus kalifornischer Sicht hinten. | |
Das kommt nach den nächsten Präsidentschaftswahlen massiv auf uns zu, auch | |
wenn Trump nicht gewinnt. Machen Sie sich da keine Illusionen. All das, was | |
wir diskutiert haben, hängt nicht von Trump ab. Donald Trump macht es um | |
Faktoren schlimmer und gefährlicher. Aber Amerika wird sich nach der Wahl | |
in den Indopazifik orientieren, also das tun, was Obama vor vielen Jahren | |
verkündet hat. | |
Das ist seit der ersten Obama-Administration angelegt. Warum gibt es hier | |
keine Working Groups oder Stuhlkreise, die sich mit solchen Szenarien | |
beschäftigen? | |
Weil es nicht um Stuhlkreise und Working Groups geht. Du brauchst die | |
Individuen und politischen Parteien. Und die müssen dafür brennen und etwas | |
riskieren. | |
Warum gibt‘s die Leute nicht? | |
Weil wir in Europa sind und nicht in Amerika und nicht in Kalifornien. Ich | |
meine, was war es für eine enorme Risikobereitschaft, dass unsere Vorfahren | |
nach Amerika gegangen sind, mit ihren Familien, mit Kind und Kegel. Über | |
den Nordatlantik. Das waren Risktaker. Und unsere direkten Vorfahren, die | |
hiergeblieben sind, das waren Riskavoider. | |
Wir in der Bundesrepublik haben halt auch etwas und damit auch etwas zu | |
verlieren. | |
Was macht denn der europäische Milliardär? Investiert er hier in Start-ups? | |
Neuerdings etwas. Aber in der Regel transferiert er sein Geld und | |
investiert es auf der anderen Seite des Atlantiks. | |
Weil die Bedingungen besser sind? | |
Nein, weil dort drüben Unternehmer sind, die die Bedingungen des | |
Investments anders sehen. Wir leisten uns hier jetzt wieder die Debatte: | |
Markt oder Staat? Das ist völlig gaga. Wir sollten machen, was | |
funktioniert. In den USA hatte die republikanische, marktwirtschaftliche | |
Partei kein Problem, im Moment der Finanzkrise zur Verstaatlichung zu | |
greifen, um, nachdem die Krise durch war, erfolgreich mit Gewinn zu | |
reprivatisieren. Da würde unser Lindner Haarausfall bekommen mit seiner | |
FDP. Das ist ein am Handeln orientierter Pragmatismus. Da sind die uns weit | |
voraus. | |
Was die Erderwärmung angeht, so gibt es zwei konkurrierende Sichtweisen: | |
Viel mehr machen, sonst kriegen wir Probleme mit der physikalischen | |
Realität. Weniger machen, sonst bricht die Gesellschaft und Demokratie | |
auseinander. Wie sehen Sie es? | |
Wir machen zu wenig. Wobei da meine Partei nicht ganz unschuldig ist. Wir | |
ignorieren die Chance und das wird böse ins Auge gehen. Ich meine, wovon | |
soll dieses Land in Zukunft leben? Unser Geschäftsmodell als Bundesrepublik | |
ist kaputt. Billige Energie wird nicht wiederkommen. Der großartige | |
chinesische Markt ist mittlerweile mehr Bedrohung als Chance. Und | |
Sicherheit für lau, das gibt es auch nicht mehr. | |
Wenn sich die USA, egal ob mit Trump oder mit Biden, Richtung pazifischen | |
Raum orientieren, dann ist doch der Westen am Ende. | |
Wenn wir ein Interesse an der Fortexistenz des transatlantischen Westens | |
haben, und ich meine, wir müssen es haben, dann müssen wir alles dafür tun. | |
Äußerste Anstrengung, um die europäischen Pfeiler dieses Westens zu | |
stärken. | |
Aber das will Macron doch. | |
Nein, sonst würde er es doch machen und nicht nur reden. Ich verstehe weder | |
ihn noch Scholz. | |
Was verstehen Sie nicht? | |
Warum die beiden sich nicht zusammensetzen unter vier Augen und sagen: | |
Woran liegt‘s? Warum verstehe ich dich nicht? Warum verstehst du mich | |
nicht? Was ist das Problem? Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Deutsche | |
und Franzosen sich zu ähnlich sind in der Haltung, immer bestimmen zu | |
wollen. Es gibt mehrere Lösungswege für ein Problem. Aber wir sind der | |
Überzeugung, der deutsche Lösungsweg ist der einzig selig machende. Und den | |
Franzosen geht es auch so. | |
Was ist das dann noch für ein Westen, der ohne die USA und als Dienstbote | |
dasteht? | |
Das ist kein Westen mehr. | |
Kann er nicht kulturelle Macht bleiben? | |
Nochmal: Der europäische Westen muss militärische Macht werden, um sich | |
selbst und seine Freiheit verteidigen zu können. Wenn meine Ausgangsthese | |
richtig ist, dass die Pax Americana abgelöst wird durch einen längeren | |
Übergangszeitraum der Rivalität großer Weltmächte, dann wird es für Europa | |
essenziell sein, dass wir da mitspielen. Das heißt, wir müssen zur Macht | |
werden. | |
Wie genau? | |
Im Zentrum der EU stand bisher die Wirtschaft. Im Zentrum muss zukünftig | |
die Sicherheit stehen. Die Konfrontation mit der Ukraine hat gezeigt, dass | |
die russische Wehrtechnik nichts Besonderes ist. Das können die Europäer, | |
das können die Deutschen ganz schnell aufholen. Wenn wir die Bremsen | |
lockern. Aber du kannst nicht de facto im Kriegszustand sein und einen | |
ausgeglichenen Haushalt haben. Das geht nicht. | |
Was wäre denn – umgedreht – die Idee einer Friedensordnung, in der der | |
Westen eine intelligente Rolle spielt? | |
Wenn wir uns eine globale Friedensordnung überlegen, dann kann ich mir im | |
21. Jahrhundert nur ein Duopol vorstellen. Eine mehr schlecht als recht | |
funktionierende chinesisch-amerikanische Führung der Welt. Ohne China geht | |
das nicht. Und nicht ohne den Ausgleich zwischen den beiden Supermächten im | |
21. Jahrhundert. Ich bin übrigens nicht pessimistisch. Sondern realistisch. | |
Die Europäer müssen begreifen, dass der Westen keine Zukunft hat, wenn wir | |
unsere historischen Hausaufgaben nicht machen. | |
Wir befinden uns in einer Situation, in der wir über Dinge nachdenken, die | |
bisher nicht nötig und auch nicht möglich waren und die sehr unangenehm | |
sind. | |
Aber da müssen wir auch selbstkritisch sagen, wir haben uns immer auf die | |
USA verlassen. Bei aller Kritik hatten wir immer instinktiv das Gefühl: | |
Wenn es ernst wird, sind die da. Ohne unseren aktiven Beitrag. | |
Woher soll die neue Kultur eigener Aktivität kommen? | |
Wir sind stark genug, um diesem Europa eine Zukunft zu geben. Das ganze | |
Potential, der ganze Reichtum, den wir immer noch haben, die ganzen | |
Fähigkeiten unserer Leute: Das ist schon gewaltig. Der festen Überzeugung | |
bin ich. Wir müssen nur aufhören, in Illusionen zu denken. Die Welt ist | |
leider hart und gnadenlos – aber auch schön und erhaltenswert in Freiheit. | |
Dieses Interview ist in unserem Magazin taz FUTURZWEI N°29 erschienen. | |
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17 Jun 2024 | |
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## AUTOREN | |
Peter Unfried | |
Harald Welzer | |
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