# taz.de -- „Schluss mit dem Schema, Platz für das Leben“ | |
> Nastassja Martin folgt den Ewenen beim Dialog mit den Tieren und der | |
> Bedeutung der Träume. Ein Alltag zwischen kolonialer Machtpolitik und | |
> kommender Katastrophe | |
Bild: Braunbären auf der Halbinsel Kamtschatka. Für viele Russen eine ferne W… | |
Von Eva Behrendt | |
Vor drei Jahren erschien „An das Wilde glauben“, eine autofiktionale | |
Erzählung der französischen Anthropologin Nastassja Martin. 2015 wurde die | |
damals 29-Jährige, die zwecks Feldforschung bei den Ewenen (oder Even) von | |
Itscha auf der Vulkanhalbinsel Kamtschatka im äußersten Nordosten Russlands | |
lebte, von einem Bären ins Gesicht gebissen. Es folgten komplizierte | |
Operationen und ein langwieriger Genesungsprozess in Russland und | |
Frankreich, den Martin auch anthropologisch reflektiert: Was bedeutet eine | |
solche gewaltsame Begegnung von Mensch und „wildem“ Tier? Martin jedenfalls | |
zog wieder zurück nach Kamtschatka und schrieb 2022 „À l’est des rêves�… | |
„Im Osten der Träume“ –, das jetzt in der deutschen Übersetzung von Cla… | |
Kalscheuer erschienen ist. | |
Ihre Erzählung vom Zusammenstoß mit dem Bären war auch deshalb so | |
faszinierend, weil sie ihn vor dem Hintergrund dessen deutete, was sie | |
gerade bei ihren oldschool-ethnologischen Feldforschungen gelernt hatte. | |
Demnach nehmen die Ewenen träumend Kontakt zu nichtmenschlichen oder | |
verstorbenen Wesen in ihrer Umgebung auf; auch Martin hatte zuvor von einem | |
Bären geträumt. Dass das weder esoterischer Bullshit noch poetische | |
Naturvolkverklärung sei, führt die Schülerin des französischen | |
Anthropologen Philippe Descola, der wiederum Schüler von Claude | |
Lévi-Strauss war, in ihrem zweiten, umfangreicheren Buch aus: Es geht um | |
nichts Geringeres als eine komplett andere Form des Denkens, die nicht | |
dualistisch zwischen Natur und Kultur, Traum und Wirklichkeit | |
unterscheidet, sondern „performativ“ ist, handlungsanleitend. Aber geht das | |
überhaupt? | |
Als die Autorin im Rahmen ihrer Doktorarbeit bei den Gwich’in im Nordosten | |
Alaskas unterwegs war, kam ihr die Idee, sie mit autochthonen Völkern auf | |
der anderen Seite der Beringstraße zu vergleichen: So stieß sie auf das | |
sibirische Nomadenvolk der Ewenen, das im 19. Jahrhundert nach Kamtschatka | |
eingewandert war und dort in kleineren Gruppen mit Rentieren zusammenlebte. | |
In der Sowjetunion wurden sie und ihre Herden kolonisiert und in Sowchosen | |
kollektiviert: Einige Ewenen beaufsichtigten nunmehr riesige Rentierherden, | |
andere arbeiteten in der Land- und Forstwirtschaft. Nach dem Zusammenbruch | |
der Sowjetunion knüpften manche an ihren vorsowjetischen Lebensstil an. | |
Allerdings hat sich die Welt verändert, klimatische Veränderungen, | |
Rohstoffextraktion, vor allem von Nickel, und andere menschliche Eingriffe | |
stören auch in Kamtschatka das ökologische Gleichgewicht. | |
Doch der koloniale Ost-West-Vergleich – die USA griffen über die „Natur“, | |
die Sowjetunion über die „Kultur“ auf die Autochthonen zu – führt Martin | |
sogleich zu einer methodischen Kritik: Schematische Oppositionen | |
tendieren zu Standardisierung und Starrheit. In unserer vom rasch | |
voranschreitenden Klimawandel und Umweltzerstörung geprägten Zeit plädiert | |
Nastassja Martin stattdessen für einen Weg aus der Dualität von Natur und | |
Kultur: „Schluss mit dem Schema, Platz für das Leben.“ | |
In gewisser Weise gilt das auch für den weiteren Verlauf des Buches, das | |
trotz gelegentlicher Leitfragen wie ein improvisiertes Sammelsurium aus der | |
Feldforschungskladde wirkt. Nastassja Martins Interesse gilt vor allem der | |
sozialen Funktion des Träumens: Sie skizziert einerseits die noch eher | |
junge abendländische Auffassung vom Traum als individueller Projektion oder | |
neuronalen Aufräumarbeiten, verbindet ihn andererseits mit | |
Ursprungsmythen und Kosmologien. Demnach ist „das Denken im Anfang etwas | |
Geteiltes und allen zugänglich“ – unabhängig von den jeweiligen kognitiven | |
Fähigkeiten. Nicht der introspektive, sondern der Begegnungstraum ist eine | |
Möglichkeit, den abgebrochenen Dialog mit nichtmenschlichen Wesen wieder | |
aufzunehmen. Bei den Ewenen waren traditionell die Schamanen darauf | |
spezialisiert; mittlerweile gibt es aber kaum noch welche. Deshalb | |
beschloss Martins ewenische Bezugsfreundin, die über 60-jährige Großmutter | |
Darja, das Träumen selbst in die Hand zu nehmen – und kehrte prompt mit | |
ihrem Clan zurück in die Wälder. | |
Nastassja Martin interessiert vor allem die pragmatische und kreative | |
Dimension dieses Traumdenkens. Denn die Möglichkeit der geträumten | |
Verständigung mit Tieren, Pflanzen und sogar den Elementen motiviert die | |
Ewenen, überhaupt an ihren seminomadischen Lebensstil anzuknüpfen, in | |
Hütten und Jurten fern jeder Infrastruktur eisige Winter und | |
stechmückenreiche Sommer durchzustehen, auch wenn sie mittlerweile gewisse | |
Zugeständnisse an die Moderne machen, motorisierte Schlitten und Boote | |
nutzen oder halb legalen Pelzhandel treiben, um Importwaren kaufen zu | |
können. Umgekehrt haben manche Ewenen der russischen Verwaltung riesige, | |
menschenleere Waldgebiete als Leihgabe abgerungen. | |
Die Autorin selbst kehrt mitsamt ihrer kleinen Tochter immer wieder zu | |
Darja und ihrer Familie zurück, wie man in der Doku „Ein Winter bei den | |
Ewenen“ auf Youtube erfahren kann. Eine gelebte Aussteigerfantasie? Für | |
Nastassja Martin scheint es vielmehr eine Wette auf die Zukunft zu sein. | |
Ihr gedankenreiches, anregendes Buch sieht in den Strategien der Ewenen so | |
etwas wie die letzte Chance, sich auf den Ruinen der Zivilisation | |
durchzuwursteln. | |
22 Jun 2024 | |
## AUTOREN | |
Eva Behrendt | |
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