# taz.de -- In Niedersachsen wächst Judenhass | |
> Der Rias-Jahresbericht 2023 verzeichnet – wenig überraschend – eine | |
> wachsende Zahl antisemitischer Vorfälle. Dass es insbesondere | |
> Universitäten betrifft, hat eine lange Tradition | |
Bild: Ein Fall für den nächsten Jahresbericht: Brandanschlag auf die Oldenbur… | |
Von Nadine Conti | |
Es ist auf traurige Art und Weise überhaupt nicht überraschend, was die | |
Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (Rias) Niedersachsen in | |
ihrem Jahresbericht 2023 zu verkünden hat. „Natürlich“ hat es im | |
vergangenen Jahr erneut einen massiven Anstieg von antisemitischen | |
Vorfällen gegeben, 331 dokumentierte die Rias. Das sind 60 Prozent mehr als | |
im Vorjahr. 153 davon in den letzten drei Monaten des Jahres, nach dem 7. | |
Oktober, nach dem Terrorangriff der Hamas. | |
Was allerdings erst durch die mühsame Erfassungs- und Analysearbeit der | |
Rias deutlich wird, sind zwei Erkenntnisse: Wie grauenhaft alltäglich | |
antisemitische Anwürfe für Jüdinnen und Juden in Deutschland schon wieder | |
sind. Und wie austauschbar der Anlass ist, die „Gelegenheitsstruktur“, wie | |
es im Rias-Bericht heißt, um umstandslos uralte antisemitische Motive zu | |
reaktivieren und zu aktualisieren: Gestern waren das noch die Pandemie oder | |
der Ukraine-Krieg, heute eben Gaza. | |
Da ist die Frau, die auf einer Rolltreppe im Einkaufszentrum unversehens | |
von zwei anderen Frauen angerempelt wird – weil die einen Blick auf den | |
Sperrbildschirm ihres Handys geworfen haben, der hebräische Buchstaben und | |
eine israelische Flagge zeigte. Da sind die dummen Sprüche im Supermarkt | |
oder am Kiosk, wenn der Davidsstern an der Halskette sichtbar wird. Da sind | |
Dutzende Vorfälle in Bildungseinrichtungen von der Kita über die Schule bis | |
zur Universität. | |
„Das sind Situationen, denen ich nicht ausweichen kann“, sagt Katarzyna | |
Miszkiel-Deppe, Leiterin der Rias Niedersachsen. In einem Restaurant oder | |
Theater könne man ja vielleicht aufstehen, gehen und nie wieder kommen, in | |
der Schule nicht. | |
Wie schwer erträglich die Situation vor allem an Universitäten geworden | |
ist, macht auch Rebecca Seidler deutlich. Die Geschäftsführerin der | |
Liberalen Jüdischen Gemeinde Hannover und Vorsitzende des Landesverbandes | |
der Israelitischen Kultusgemeinden Niedersachsen schildert in ihrem | |
Grußwort, wie sie von einer pro-palästinensischen Studentengruppe ins | |
Visier genommen wurde. In sozialen Medien wurde ihr Foto verbreitet wie ein | |
Steckbrief, auf dem Campus wird die jüdische Dozentin seither vom | |
Sicherheitsdienst begleitet. Auch der Verband Jüdischer Studierender Nord | |
beklagt, dass sich viele jüdische Studierende nicht mehr frei auf dem | |
Campus bewegen können, sich unsichtbar machen müssen, um sicher zu sein. | |
Das, macht Susanne Urban in ihrem Gastvortrag „Nicht nur die documenta | |
fifteen – Antisemitismus in Kunst und Kultur“ deutlich, hat eine lange | |
Tradition. „Judenhass“ war nie nur ein Phänomen der dumpfen Massen, sondern | |
unter Kulturschaffenden und Akademikern weit verbreitet. | |
Der hakennasige, mit bluttriefenden Vampirzähnen ausgestattete teuflische | |
Weltherrscher, der schweineköpfige israelische Soldat mit SS-Insignien – | |
wer hinsieht, findet diese Motive überall wieder. In den | |
Verschwörungserzählungen der Reichsbürger oder Coronaleugner genauso wie in | |
der vordergründigen Kapitalismus-/Imperialismus-/Kolonialismuskritik auf | |
Seiten der Linken. In der Negierung und Relativierung des Holocaust | |
(Israelis als die schlimmeren Nazis) treffen sich Islamisten und Rechte, in | |
der Schlussstrich-Sehnsucht Rechte („Schuldkult“) und Linke („free | |
palestine from german guilt“). | |
Und auch der „Kindermörder“-Vorwurf, das macht Helge Regner bei der | |
Vorstellung des Jahresberichts deutlich, bezieht sich zwar vordergründig | |
auf die zivilen Opfer in Gaza – knüpft untergründig aber an die Bilder an | |
vom Kinder klauenden, Kinderblut trinkenden Juden, den Mörder des | |
Jesuskindes, des Gottessohnes, mit dem schon seit Jahrhunderten Pogrome | |
gerechtfertigt werden. | |
Es ist eben auch dieses permanente Déjà-vu, das die Vorfälle so schwer | |
erträglich macht. Auch wenn die, einzeln betrachtet, oft unterhalb der | |
Schwelle der Strafbarkeit liegen. Hier unterscheidet sich die Statistik der | |
Rias von der polizeilichen Statistik der politisch motivierten | |
Kriminalität. Als zivilgesellschaftliche Einrichtung erfasst und | |
kategorisiert Rias streng aus der Perspektive und in Rücksprache mit | |
Betroffenen, Einzelpersonen wie Institutionen. Und zählt dabei auch das, | |
was hier als „verletzendes Verhalten“ kategorisiert wird, Aussagen, | |
Plakate, Aufkleber oder Internet-Posts, die gerade noch von der | |
Meinungsfreiheit gedeckt sind. | |
Erklärtes Ziel ist es, daraus gezielte Präventions- und Schutzmaßnahmen | |
ableiten zu können. Der dritte Jahresbericht der Einrichtung bleibt | |
allerdings in mancher Hinsicht sehr abstrakt und schwer nachvollziehbar. Es | |
werden nur wenige Beispiele näher geschildert, vor allem bei den Fällen von | |
extremer Gewalt (1) und körperlicher Angriffe (11) hält man sich zurück. | |
21 Jun 2024 | |
## AUTOREN | |
Nadine Conti | |
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