# taz.de -- Grüne Insel im braunen Meer | |
> Berlin ist das einzige Bundesland in Ostdeutschland, in dem bei der | |
> EU-Wahl nicht die AfD gewinnt. Stattdessen liegen trotz deutlicher | |
> Verluste wie 2019 die Grünen vorn. Die AfD kommt nur auf Platz 4 | |
Von Stefan Alberti | |
Ganz Gallien ist von den Römern besetzt. Ganz Gallien? Nein! Ein von | |
unbeugsamen Galliern bevölkertes Dorf … Wer Schaubilder vom bundesweiten | |
Ausgang der Europawahl angeguckt hat, könnte sich an die immergleiche | |
Einführung in Asterix-Comics erinnert gefühlt haben. Denn auf der großen | |
Fläche rechts auf der Karte zwischen Ostsee und Erzgebirge ist als stärkste | |
Kraft fast durchweg die AfD mit dem für sich beanspruchten Blau zu sehen | |
(die taz hat das angesichts mehrfacher Einordnung von AfD-Landesverbänden | |
als „gesichert rechtsextrem“ durch Braun ersetzt). | |
Bloß in der Mitte dieser Fläche, die mal die DDR war, ist ein grüner Punkt | |
auszumachen, noch nicht mal 40 mal 25 Kilometer groß. Berlin ist das | |
einzige der sechs Bundesländer in Ostdeutschland, in dem am Sonntag nicht | |
die AfD am stärksten abschnitt: Hier liegen, wenn auch mit starken | |
Verlusten, wie bei der EU-Wahl 2019 die Grünen vorne. | |
Die AfD, bundesweit bei 15,8 und in Sachsen und Thüringen rund 31 Prozent | |
stark, ist in Berlin nur auf 11,6 Prozent gekommen und liegt damit in der | |
Parteienrangliste lediglich auf Platz 4. Auch der Zuwachs gegenüber 2019 | |
fällt mit rund 1,7 Prozentpunkten noch nicht einmal halb so hoch aus wie | |
bundesweit. | |
Führende [1][EU-Kraft in Berlin] bleiben die Grünen vor der CDU, trotz | |
eines gegenüber der Wahl von 2019 um fast ein Drittel schlechteren | |
Ergebnisses. Noch stärker, nämlich fast 40 Prozent, verlor die Linkspartei. | |
Die lange als Kleinpartei eingestufte Gruppierung Volt hingegen schnitt in | |
Berlin mit 4,8 Prozent stärker ab als die auf Bundesebene mitregierende FDP | |
(4,3). | |
2019 hatten die Grünen in Berlin das erlebt, was man einen Erdrutschsieg | |
nennt: Sie, bei EU-Wahlen traditionell stark, bekamen 27,8 Prozent aller in | |
der Hauptstadt abgegebenen Stimmen – annähernd so viele wie CDU und SPD | |
zusammen. Nun erreichten sie trotz der starken Verluste noch 19,6 Prozent, | |
ungefähr so viel wie bei der EU-Wahl 2014. Die CDU konnte sich zwar leicht | |
verbessern, aber bloß auf 17,6 Prozent. Die SPD wiederum verlor zwar auch | |
in Berlin, aber halb so stark wie im Bundesdurchschnitt und erreicht noch | |
13,2 Prozent. | |
Das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), zu dem aus der Linksfraktion im | |
Abgeordnetenhaus [2][nur ein Abgeordneter gewechselt ist], kam bei seinem | |
ersten Wahlauftritt auf 8,7 Prozent und lag damit vor der Linkspartei: Die | |
holte 2019 noch 11,9 Prozent und rutschte nun auf 7,3 ab. | |
Auf die führenden Berliner Kandidaten und bisherigen Abgeordneten hatten | |
die bundesweiten Veränderungen weitgehend keinen Einfluss: alle von ihren | |
hiesigen Landesverbänden nominierten namhaften Bewerber von Grünen, SPD und | |
Linkspartei waren auf der Bundesliste ihrer Parteien so hoch eingeordnet, | |
dass sie auch bei noch schlechterem Wahlausgang erneut ins Parlament | |
gekommen beziehungsweise erneut dort eingezogen wären. | |
Im Parlament sind daher wiederum: Sergey Lagodinsky, Hannah Neumann und | |
Erik Marquardt (alle Grüne), Gaby Bischoff (SPD) und Martin Schirdewan | |
(Linkspartei). Bei der CDU, die anders als die anderen Parteien wegen der | |
Schwesterpartei CSU mit Landeslisten antritt, galt ein erneutes Mandat für | |
Hildegard Bentele ebenfalls als sicher. Vom starken Wachstum der AfD | |
jenseits von Berlin profitierte ihr hiesiger Kandidat Alexander Sell: Er | |
nimmt den 15. der Bundesliste und damit den letzten seiner Partei nun | |
zustehenden Platz im Europaparlament ein. | |
Die Wahlbeteiligung lag am Sonntag leicht über der von 2019: [3][Stimmten | |
damals 60,6 Prozent] direkt an der Urne oder per Briefwahl ab, so waren es | |
dieses Mal 62,3. Bundesweit fiel die Wahlbeteiligung mit 64,8 Prozent | |
merklich höher aus. Erstmals durften bei dieser Wahl 16- und 17-Jährige | |
mitstimmen. | |
Für Berlin Landeswahlleiter Stephan Bröchler, nach der Pannenwahl vom | |
September 2021 ins Amt gekommen, war es nach zwei Wiederholungswahlen zum | |
Abgeordnetenhaus Anfang 2023 und erst vor vier Monaten zum Bundestag die | |
erste reguläre Wahl. Seine Bilanz fiel am Montag vor Journalisten gut aus: | |
In zwei Wahllokalen – von weit über 2.000 – konnte es erst 20 Minuten | |
später losgehen, in einem gab es kurz vorher einen Wasserschaden, der aber | |
behoben werden konnte. Auch von Bröchler befürchtete Blockaden durch zuvor | |
angemeldete propalästinensische Demonstrationen blieben aus. | |
Laut Bröchler gab es bei der Wahlbeteiligung „das beste Ergebnis, das wir | |
bislang bei Wahlen zum Europaparlament gehabt haben“. Er wies dabei auch | |
auf den deutlich gewachsenen Anteil bei der Briefwahl hin. Per Brief | |
wählten 2019 noch rund 31 Prozent, nun waren es 43 Prozent. „Die Briefwahl | |
ist die neue Urnenwahl“, sagte der Landeswahlleiter am Montag. Innerhalb | |
Berlin fällt die Beteiligung allerdings höchst unterschiedlich aus: Nutzten | |
in Marzahn-Hellersdorf und Spandau jeweils kaum 55 Prozent ihr Stimmrecht, | |
so waren es in Steglitz-Zehlendorf rund 70 Prozent. | |
Aufschluss darüber, wie weit die erstmals auf EU-Ebene wahlberechtigten 16- | |
und 17-Jährigen in Berlin ihr Stimmrecht nutzen, konnte Bröchler nicht | |
geben – die Umfrageinstitute würden ihre Zahlen nicht auf die Bundesländer | |
runterbrechen. Sein subjektiver Eindruck von mehreren | |
Diskussionsveranstaltungen in Schulen aber sei, dass er neben vielen jungen | |
Leuten, die auf jeden Fall wählen wollten, auch welche erlebte, die sich | |
dafür noch nicht reif fühlten. Der Bundestag hatte das Teilnahmealter bei | |
der EU-Wahl im November 2022 von 18 auf 16 Jahre gesenkt. Auch bei der | |
Berlin-Wahl 2026 sollen 16- und 17-Jährige abstimmen können – das hatte das | |
Abgeordnetenhaus im Dezember beschlossen. | |
11 Jun 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://www.wahlen-berlin.de/wahlen/EU2024/AFSPRAES/index.html | |
[2] /!5984687&SuchRahmen=Print | |
[3] https://wahlen-berlin.de/wahlen/EU2019/AFSPRAES/index.html | |
## AUTOREN | |
Stefan Alberti | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |