# taz.de -- Das große Meeresrauschen | |
> Das heute beginnende Internationale Filmfest Emden-Norderney zeigt nicht | |
> zum ersten Mal „Geschichten vom Meer“. Die so benannte Rubrik aber ist | |
> neu im Programm | |
Bild: In der Luft und unter Wasser lauern die Deutschen: Anders Baasmo als Kapi… | |
Von Wilfried Hippen | |
Ein alter Fischer weigert sich, sein Heimatdorf an der Küste von | |
Neufundland zu verlassen, obwohl die kanadische Regierung alle | |
Bewohner*innen umsiedeln will. Ein junger Surfer sucht in der Brandung | |
vor Westschottland nach seinem Vater, obwohl dieser offensichtlich | |
ertrunken ist. Eine Frau sitzt mit ihrem Cello an der französischen | |
Atlantikküste und spielt Bach: Es gibt eigentlich kaum einen passenderen | |
Rahmen, um Filme mit solchen Motiven zu zeigen, als ein Festival am Meer. | |
Da verwundert es etwas, dass die Organisator*innen des | |
Internationalen Filmfests Emden-Norderney erst jetzt, im 34. Jahr seines | |
Bestehens, darauf gekommen sind: „Geschichten vom Meer“ heißt eine neue | |
Rubrik im Festivalprogramm. Dafür sind sowohl internationale wie auch | |
einheimische Filme mit maritimen Bezügen ausgewählt worden. | |
Dass das Festival an der Nordseeküste beheimatet ist, nicht im Schatten der | |
Alpen, merkte man freilich auch früher schon: Viele Jahre lang bereits | |
werden Filme aus den benachbarten Niederlanden gezeigt, die Küsten- | |
respektive Inselstaaten Norwegen und Großbritannien sind Partnerländer des | |
Festivals. Seit diesem Jahr gibt es auch eine Kooperation mit der | |
kanadischen Filmbranche – das ist wohl ein Grund dafür, warum am heutigen | |
Mittwochabend „Sweetland“ das Festival eröffnet (19 Uhr, Festspielhaus am | |
Wall): Film und Festival beginnen mit dem Klang rauschender Wellen, hier | |
wird die raue Küste von Neufundland derart gefeiert, dass sie | |
Hauptdarsteller Mark Lewis Jones die Show stiehlt – beinahe wenigstens. | |
Dabei wirkt dieser selber wie eine Naturgewalt: ein stoischer Mann mit dem | |
passenden Namen Noah, der als einziger sein Heimatdorf nicht verlassen | |
will, als die Regierung mit einer saftigen Abfindung für die Umsiedlung | |
lockt. Da die Entscheidung, den Ort sterben zu lassen, einstimmig fallen | |
muss, machen die Nachbarn Noah die Hölle heiß, fackeln gar seine kleine | |
Hütte ab. Regisseur Christian Sparkes erzählt in Sweetland also einerseits | |
die alte Geschichte vom Kampf des Einzelnen gegen ein herrschendes System – | |
aber auch die einer sterbenden Kultur: Noahs Heimatort gehört zu den | |
abgelegenen Fischereistationen, die der Heringsfang Jahrhunderte lang am | |
Leben erhalten hat; so wie die Heringsschwärme, verschwinden heute auch | |
sie. | |
Mit schottischen Coming-of-age-Geschichten hat sich Bill Forsyth in den | |
1980er-Jahren einen Namen gemacht („That Sinking Feeling“, „Gregory’s | |
Girl“). In dieser Tradition steht nun Johnny Barrington mit seinem Film | |
„Silent Roar“, in Emden nun im Wettbewerb, um den „Bernhard Wicki Preis�… | |
sehen: Auf der kleinen Insel Lewis in den schottischen Äußeren Hebriden | |
lebt der junge Surfer Dondo (Louis McCartney). Er reitet gar nicht gerne | |
auf den Wellen, sondern paddelt lieber hinaus auf den Atlantik, um seinen | |
Vater zu suchen – einen Fischer, der seit einem Jahr vermisst wird. Diese | |
Verdrängung der Trauerarbeit macht ihn zu einem Außenseiter, auch fällt | |
dadurch kaum auf, dass sich seine Mitschülerin Sas (Ella Lily Hyland) für | |
ihn zu interessieren beginnt. Komisch machen den Film die skurril | |
gezeichneten Insulaner; Dondos Trauma aber nimmt Barrington sichtlich ernst | |
– immer wieder unterspülen die Komödie dunkle Strömungen. | |
Auch Kriege werden auf dem Meer geführt – so etwa in „Das Boot“ des | |
gebürtigen Emders Wolfgang Petersen. Um an ihn zu erinnern, zeigt das | |
Festival die „Arte“-Dokumentation „Das Boot – Welterfolg aus der Tiefe�… | |
erwähnten Wicki-Wettbewerb läuft mit „Arctic Convoy“ aus Norwegen aber au… | |
ein ganz neuer Kriegsfilm: Henrik M. Dahlsbakken erzählt darin die wahre | |
Geschichte ziviler Handelsschiffe, die im Jahr 1942 Kriegsgüter von Island | |
ins sowjetische Murmansk zu transportieren versuchten – durch deutsch | |
kontrolliertes Gebiet. Sie werden von U-Booten und Bombern angegriffen, | |
dann ziehen sich auch noch die alliierten Kriegsschiffe aus dem Konvoi | |
zurück. | |
Abgesehen von einigen digitalen Totalen spielt der ganze Film auf einem | |
dieser Transporter und entwickelt sich schnell zu einem klaustrophobischen | |
Psychodrama. Als es zu einer versuchten Meuterei kommt, ist lange nicht | |
klar, ob der Kapitän seine Mannschaft sinnlos in den Tod schicken will – | |
oder der Steuermann aus Todesangst schlicht durchdreht. | |
Nur zu etwa einem Drittel am Meer spielt Stéphan Aubés „Suiten für eine | |
verwundete Welt“. Allerdings ist diese an der französischen Atlantikküste | |
gedrehte Episode der interessanteste Teil des Musikfilms: Die in Bremen | |
lebende Cellospielerin Tanja Tetzlaff ist an den Schweizer Rhonegletscher | |
oder den vom Borkenkäfer befallenen Harz gereist, um in verwundeter, umso | |
schöner eingefangener Natur die Cellosuiten Nr. 4–6 von Johann Sebastian | |
Bach zu spielen; dazu liest sie ein selbstverfasstes Pamphlet gegen die | |
Zerstörung der Natur vor. | |
Das ist mit seiner Werbefilmästhetik und den vielen | |
Drohnenflug-Götterperspektiven schon auch ein wenig eitel. Aber in der | |
Sequenz am Atlantik kommen Musik und Film dann doch zusammen: Hier fahren | |
Lastwagen mit Sand – der Strand muss ständig neu aufgeschüttet werden – an | |
Tetzlaff vorbei, während sie ihr Cello spielt. Mit Motorenlärm sich | |
mischend wird die makellose Musik verwundet. | |
34. Internationales Filmfest Emden-Norderney: 5.–12. 6., | |
www.filmfest-emden.de | |
5 Jun 2024 | |
## AUTOREN | |
Wilfried Hippen | |
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