# taz.de -- Allgegenwärtige Gewalt, dramatische Bläser | |
> „Chowanschtschina“ ist eine historisch-politische Oper vonModest | |
> Mussorgskij. In einer fulminanten Fassung von Claus Guth und Simone Young | |
> ist sie jetzt an der Staatsoper Berlin zu erleben | |
Bild: Mika Kares als Fürst Iwan Chowanski und Ensemble auf der Bühne der Staa… | |
Von Katharina Granzin | |
„Kunst ist ein Mittel zur Kommunikation mit Menschen, nicht ein Ziel in | |
sich selbst.“ So umriss Modest Mussorgskij im Jahr vor seinem Tod – er | |
starb 1881 kurz nach seinem 42. Geburtstag an Alkoholsucht – sein | |
ästhetisches Programm. Zu jener Zeit arbeitete er an mehreren Werken | |
gleichzeitig, die er alle nicht mehr beenden würde, darunter auch die | |
„Chowanschtschina“. Er hinterließ eine Klavierfassung der Oper, in der nur | |
wenige Stellen eindeutige Hinweise auf die Instrumentierung enthielten. | |
Zahlreiche Kollegen sollten sich in den folgenden Jahrzehnten damit | |
beschäftigen, das Werk für ihn fertigzustellen – auch das eine Form der | |
Kommunikation. Die heutzutage meistgespielte Version ist diejenige, die | |
Dmitrij Schostakowitsch 1960 anfertigte; und auch für die jetzige | |
Inszenierung an der Staatsoper Berlin hat Dirigentin Simone Young sich für | |
diese Fassung entschieden. Das Ende der Berliner Aufführung – eine große | |
Chorszene, für die Mussorgskij nur die Melodie eines russischen Volksliedes | |
notiert hatte – allerdings stammt von Igor Strawinskij. | |
Regisseur Claus Guth führt Mussorgskijs Diktum von Kunst als Kommunikation | |
meister- und musterhaft fort. Damit in allen Szenen der eher fragmentarisch | |
organisierte Handlung erkennbar wird, wer gerade mit wem warum ringt, hat | |
er eine quasi-dokumentarische Metaebene eingeführt, deren historische | |
Hintergründe am Rande stehende AkteurInnen in Übertexten erläutern und die | |
Identitäten von Bühnenpersonen klären. Das ist sowohl sehr sinnig, weil es | |
die geschichtliche Dimension (und Kontinuität) des Ganzen verbildlicht, als | |
auch ungemein hilfreich, vielleicht sogar unverzichtbar, für das | |
unmittelbare Verständnis der Handlung. | |
Die „Chowanschtschina“ ist benannt nach einem ihrer Protagonisten, dem | |
Bojaren Chowanski, und handelt von einer Zeit verworrener Macht- und | |
Kulturkämpfe im Russland des ausgehenden 17. Jahrhunderts nach dem | |
berüchtigten Strelitzenaufstand, dem etliche Mitglieder der Zarenfamilie | |
zum Opfer fielen. Der noch kindliche Zar Peter I., der später der Große | |
genannt werden sollte, steht als stummer Akteur im Hintergrund der Oper, | |
während im Vordergrund Bojaren und Altgläubige um Macht in Staat und Kirche | |
ringen. Damit auch Frauen auf der Bühne stehen, geht es in einem | |
Handlungsstrang um Liebe. Dabei hätte dem Librettisten eine | |
hochinteressante politische Akteurin in der Regentin Sofija, Peters großer | |
Gegenspielerin, zur Verfügung gestanden; aber die Konventionen des 19. | |
Jahrhunderts standen dem wohl entgegen. | |
Es ist eine grausame, ganz von Gewalt durchdrungene Welt, in der diese | |
singenden Menschen leben: Alles lässt sich nur durch Gewaltausübung | |
erlangen und erhalten, sei es Macht, Liebe oder rechter Glaube. Politische | |
Gegner bekämpfen sich mit bewaffneten Milizen, Männer wollen Frauen brutal | |
zur Liebe zwingen, Altgläubige greifen zum Mittel der Selbstverbrennung als | |
ultimativem Zeichen des Protests. Das alles ist in eine sich unmittelbar | |
mitteilende Musik gegossen, in der das melancholische Melos russischer | |
Volkslieder, unterfüttert mit altkirchenslavischer Tonalität, in die großen | |
Formen der Oper des 19. und 20. Jahrhunderts überführt wurde. | |
Schostakowitsch greift bei der Instrumentierung oft genug in die Vollen, | |
geizt nicht mit Bläserdramatik und Schicksalsgedröhn, pinselt aber ebenso | |
oft feine, dabei sehr lebendige lyrische Linien, wo es gilt, rezitative | |
Passagen zu begleiten. Simone Young und die Staatskapelle durchleben diese | |
Extreme, als wäre es das Natürlichste der Welt; zu gern würde man manchmal | |
die Augen schließen, um einfach nur diese Musik zu hören, aber dann würde | |
man doch zu viel von allem anderen verpassen. Der ewige Fluch der Oper. | |
Das SängerInnen-Ensemble ist durchweg so gut gecastet, dass es ungerecht | |
wäre, einzelne hervorzuheben. Der Chor agiert toll, mal dunkel russisch | |
raunend, dann sängerisch kraftvoll, ohne zu brüllen. Manche können beim | |
Singen sogar tanzen. Die SängerInnen müssen stets die Präsenz einer echten | |
Bühnenpersona wahren, denn sehr oft streift die Livekamera, deren Bilder in | |
Massenszenen auf den Bühnenhintergrund projiziert werden, über die | |
Gesichter, hebt einzelne aus der Menge hervor: Frauen mit Kopftuch, Männer | |
mit Bärten. Hier ist es, das Volk, um dessen Schicksal es geht. | |
Ein wenig unklar bleibt, was wohl die tanzenden weißen Derwische bedeuten, | |
die sich zu Beginn des vierten Aktes auf der Bühne drehen. Vielleicht sind | |
es Schwäne – ein Anti-„Schwanensee“? In jedem Fall handelt es sich um ei… | |
Hommage an Kirill Serebrennikows grandiose Bühnenversion von Anton | |
Tschechows „Der schwarze Mönch“ am Thalia Theater. Diese Erzählung wieder… | |
war ein Herzensprojekt von Dmitrij Schostakowitsch, der eine Oper daraus | |
machen wollte. Aber ach: Mussorgskijs „Chowanschtschina“ konnte er | |
vollenden, doch sein „Schwarzer Mönch“ ist bis heute Fragment geblieben. | |
4 Jun 2024 | |
## AUTOREN | |
Katharina Granzin | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |