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# taz.de -- das wird: „Ärmere sind brutaleren Leben unterworfen“
> Olivier David über die Zusammenhänge von Klassenzugehörigkeit, Einsamkeit
> und Emotion
Interview Jonas Kähler
taz: Olivier David, sind Sie Teil der „namenlosen Menge“?
Olivier David: Ja, insofern, als ich mich als Schriftsteller der
Arbeiter*innenklasse bezeichnen würde. Mein Betrachtungsgegenstand
ist die Klassenfraktion, aus der ich komme. Als Schreibender unterliege ich
nicht denselben Produktionslogiken wie Menschen in Armut, aber ich versuche
mein Schreiben in den Dienst einer Literatur zu stellen, die von diesen
Menschen und Schicksalen erzählt. Ich glaube, es ist ein Problem
zeitgenössischer Klassenliteratur, dass Klasse als etwas gilt, was
überwunden und hinter sich gelassen werden kann. In meinem Leben bemerke
ich aber, dass ich das nicht kann.
Wo zeigt sich das?
Einmal auf einer finanziellen Ebene: Nur weil ich jetzt Kulturarbeiter bin,
heißt das nicht, dass ich davon ein gutes Auskommen habe. Aber auch auf der
Ebene meiner psychischen Kapazitäten oder meiner körperlichen Gesundheit,
mit der ich immer wieder Probleme habe. In der Klassenliteratur wird häufig
nach dem geschaut, was einen von der sozialen Klasse trennt. Ich habe
geschaut, was mich verbindet.
Was haben Sie gefunden?
Ich bin auf allerhand gestoßen. Vom Körper, unter dem Menschen in der
Armutsklasse leiden, weil sie gezwungen sind, ihren Körper als Ressource
für den Wohlstand der Gesellschaft zur Verfügung zu stellen. Aber auch in
psychischer Hinsicht: Menschen in der Armutsklasse sind einfach brutaleren
Leben unterworfen sind.
Anhand Ihrer eigenen Biografie beschreiben Sie, wie Klasse, Wut und
Einsamkeit zusammen hängen.
Ich würde behaupten, dass es etwas wie Klassengefühle gibt: Wut und
Einsamkeit sind Gefühle, die meiner Klasse gewissermaßen inhärent sind –
und damit auch der Klasse, für die ich schreibe. Je ohnmächtiger man sich
als Mensch fühlen muss, desto wahrscheinlicher ist es, dass diese Ohnmacht
zu anderen Mechanismen führt.
Arbeiter*innen sind ohnmächtig?
Nicht die ganze Klasse, aber Ohnmacht ist darin ein weit verbreitetes
Gefühl. Das sieht man an der Wahlbeteiligung, aber auch daran, wem
politisch Vertrauen geschenkt wird: Da besteht einfach ein Interesse, den
Strukturen der Herrschaft eins auszuwischen.
In welchen Gefühlen äußert sich das?
Das kann Wut oder Hass sein, es kann aber auch Einsamkeit sein. In der
unteren Klasse ist Einsamkeit weiter verbreitet. Sowohl der individuelle
Rückzug, als auch der politische Rückzug. Durch die verweigerte Beteiligung
versucht man die Institutionen zu strafen; man sagt: „Ich erkenne euch
nicht an.“
Wie ist das mit der Wut?
Ich bin mit Gefühlen großer Wut sozialisiert und würde behaupten, dass ich
damit nicht alleine bin. Es ist doch sehr wahrscheinlich, dass Menschen in
Armut wütend sind. Und dann straft man sie auch noch für ihre Wut, die sie
gar nicht haben müssten, wären sie in einer anderen sozialen Position –
eine doppelte Bestrafung.
Ist diese Wut destruktiv?
Wut hat ein absolut emanzipatorisches Potential. Natürlich ist Wut erst
einmal etwas, was man nicht gerne fühlt und worunter Menschen auch leiden.
Gleichzeitig glaube ich auch, dass es Sinn ergibt, die Wut zu
rehabilitieren. Wir müssen aufhören, über diese Wut moralisch zu urteilen,
sondern eher sehen, woher sie kommt – und die Gründe dafür abschaffen.
4 Jun 2024
## AUTOREN
Jonas Kähler
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