| # taz.de -- Dieses so rätselhafte wie lebendige Innenleben | |
| > Thomas Lehr geht auf Augenhöhe, Hans-Gerd Koch beleuchtet die Familie, | |
| > Rüdiger Safranski lässt ihn um sein Leben schreiben: ein Überblick über | |
| > neue Bücher zu Kafka | |
| Bild: Prag wirkt mancherorts selbst kafkaesk. Das Haus Zeltnergasse 3, in dem d… | |
| Von Helmut Böttiger | |
| Es gab Zeiten, in denen alle Schriftsteller wie Franz Kafka schreiben | |
| wollten. Auf der Tagung der Gruppe 47 im Frühjahr 1951 rief einer der | |
| Teilnehmer entrüstet aus: „Bei der nächsten Erwähnung Kafkas bekomme ich | |
| einen Schreikrampf!“ Der Name des mythischen Prager Schriftstellers war da | |
| nämlich gerade ungefähr zum zwanzigsten Mal gefallen, und Ilse Aichinger | |
| wurde einmal versehentlich sogar mit „Fräulein Kafka“ angesprochen. Und ein | |
| paar Jahre später schrieb Klaus Wagenbach nach einer Gruppentagung: „Für | |
| junge Autoren sollte Kafka rezeptpflichtig sein.“ | |
| Heute hat sich das gelegt. Angesichts des 100. Todestags geht nur ein | |
| einziger Autor das Risiko ein, auf Augenhöhe mit Franz Kafka zu agieren. | |
| Thomas Lehr schärft mit seinen „zehn Etüden“ erkennbar seinen eigenen Sti… | |
| Ein Titel wie „Die Babylonischen Maulwürfe“ könnte auch über einem der k… | |
| konturierten, symbolisch aufgeladenen Prosatexte Kafkas stehen. Lehr findet | |
| im juristisch geschliffenen Kafka-Ton neue Versionen klassischer Mythen, er | |
| macht ironische und abgrundtief lachende Anspielungen oder er spinnt die | |
| Obsessionen Kafkas bis in zeitgenössische Science-Fiction-Welten weiter. | |
| Nur in der titelgebenden Etüde „Kafkas Schere“ taucht der Name des Helden | |
| direkt auf, mit einem charakteristischen Changieren zwischen absurder Komik | |
| und existenzieller Leere. „Kafkas Schere“ ist leichtfüßig und tiefgründig | |
| zugleich: „Du wirst schneiden, und du fällst wie endlos in die eine oder in | |
| die andere Welt.“ | |
| Daneben erscheinen etliche andere Bücher über Kafka. Es gibt erstaunlich | |
| viele miteinander konkurrierende „Kafka-Witwen“, die älteste und erste war | |
| Klaus Wagenbach, der sich selbst gern so nannte. In einem Hörbuch liest er | |
| Erzählungen Kafkas, manchmal wirkt das wie ein Kommentar zu all den | |
| verstiegenen Kafka-Exegesen der Literaturwissenschaftler um ihn herum: | |
| „Einmal dem Fehlläuten der Nachtglocke gefolgt – es ist niemals | |
| gutzumachen.“ Zum Jubiläum erscheint im Wagenbach-Verlag der von Hans-Gerd | |
| Koch herausgegebene Bildband „Kafkas Familie“. Ein großer Teil dieser gut | |
| hundert Fotos war bisher nicht bekannt und ist Eigentum der Nachkommen von | |
| Kafkas Schwestern. Naturgemäß handelt es sich meist um genretypische | |
| Porträts und Gruppenbilder, in denen sich oft sehr sublim der | |
| gesellschaftliche Wandel zeigt. Es gibt aber auch Bilder von der | |
| Hopfenernte in Zürau – auf einem hinreißenden Foto steht Kafka, mit Hut und | |
| ungelenk versteckten Händen, neben kräftigen Landarbeiterinnen scheu | |
| lächelnd ganz am Rand. Und einmal sitzt er mit dürrem Oberkörper und nur | |
| mit einer Badehose bekleidet im Sand des Lidos von Venedig. Es ist ein Band | |
| für wahre Liebhaber. | |
| Eine andere Kafka-Witwe ist Hartmut Binder. Seit vielen Jahrzehnten trägt | |
| er auch die skurrilsten Materialien zusammen. In zwei umfangreichen Wälzern | |
| wird jetzt das gesamte Binder-Archiv opulent dokumentiert. „Franz Kafka – | |
| Ein Leben in Bildern“ bringt es auf gut tausend Seiten und besticht durch | |
| zahllose kultur- und zeitgeschichtlich aufschlussreiche Fotos und | |
| Faksimiles aus dem Alltagsleben in Prag zu Kafkas Zeiten, vom | |
| Habsburgerreich bis in die erste tschechische Republik, aus der versunkenen | |
| Welt der Kaffeehäuser, Nachtlokale, Kinos und Varietés. Binders parallel | |
| erschienenes Buch „Auf Kafkas Spuren“ ist eine Sammlung von mehr als | |
| fünfzig zwischen 1967 und 2020 verstreut publizierten Einzelstudien. Sie | |
| gehen auch nahezu verwischten Spuren nach, so in Aufsätzen wie „Fiffi, | |
| Königin der Luft. Franz Kafkas wiederentdeckter Papierflieger für seine | |
| Schwester Ottla“ oder „Vormerkbuch und Wertheimkassa. Zu einer Stelle in | |
| Kafkas ‚Verwandlung‘“. Der Ludwigsburger Privatgelehrte ist äußerst | |
| skrupulös. | |
| Die im Moment präsenteste Kafka-Witwe ist Reiner Stach. Er hat durch seine | |
| dreibändige, auffällig erzählerische Biografie große Aufmerksamkeit erregt, | |
| und dieses Jahr setzt er noch einmal neu an. Stach gibt eine eigene | |
| „Kommentierte Ausgabe“ der Texte Kafkas heraus, die auf ein größeres | |
| Publikum ausgerichtet ist. Der erste Band widmet sich dem „Process“. Die | |
| ausführlichen Stellenkommentare beziehen sich häufig auf ein Glossar mit | |
| den wichtigsten Stichwörtern. „Einsinniges Erzählen“, „Erzählersignal�… | |
| „Spiegelfunktion des Gerichts“ und „Traummotiv“. Stach agiert pragmatis… | |
| bleibt nah am Text und vermeidet allzu theoretische Höhenflüge. | |
| Bestimmt keine ausgesprochene Kafka-Witwe ist Rüdiger Safranski. Er wollte | |
| aber offenkundig nicht hintanstehen. Safranskis Titel lautet: „Kafka. Um | |
| sein Leben schreiben“. Und das ist natürlich der zentrale Punkt. Deshalb | |
| stößt Safranski ständig auf Passagen, die bereits ausgiebig interpretiert | |
| worden sind. Fast leitmotivisch kehrt etwa einer der berühmten Briefstellen | |
| Kafkas an Felice Bauer wieder: ‚„Ich habe kein litterarisches Interesse | |
| sondern bestehe aus Litteratur, ich bin nichts anderes und kann nichts | |
| anderes sein.‘“ | |
| Safranski zitiert das in seiner kurzen „Vorbemerkung“, schon auf der | |
| zweiten Seite des ersten Kapitels wiederholt er denselben Satz, und | |
| natürlich ist diese Kafkastelle auch unvermeidlich, wenn er später auf den | |
| Briefwechsel mit Felice zu sprechen kommt. Safranskis Buch ist für seine | |
| Verhältnisse mit 250 Seiten ziemlich kurz, und es enthält neben routiniert | |
| aufgespürten Motivketten auch lange Inhaltszusammenfassungen der zentralen | |
| Werke. Mit zum Besten von Safranskis Buch gehören die Briefstellen von | |
| Milena Jesenská, einer der Geliebten Kafkas, an Max Brod. Sie belegen, | |
| dass sie Kafka wirklich sehr gut kannte, also auch sein rätselhaftes und | |
| weit über seinen Tod hinaus wirkendes Innenleben. Und dieses Innenleben ist | |
| nach wie vor in der Lage, diverse Bücher zu verursachen, deren | |
| stillschweigendes Einverständnis vor allem in der Erkenntnis besteht: Wir | |
| sind mit Kafka immer noch nicht fertig. | |
| Thomas Lehr: „Kafkas Schere“. Wallstein, Göttingen 2024. 79 Seiten, 18 Euro | |
| Franz Kafka: „Ein Landarzt und andere Erzählungen“, gelesen von Klaus | |
| Wagenbach. 1 mp3-CD, DAV (Der Audio Verlag), 2017. Ca. 15 Euro | |
| „Kafkas Familie. Ein Fotoalbum“. Zusammengestellt von Hans-Gerd Koch. | |
| Wagenbach, Berlin 2024. 208 Seiten, 38 Euro | |
| Hartmut Binder: „Franz Kafka – Ein Leben in Bildern“. Vitalis-Verlag, Prag | |
| 2024. 1.000 Seiten, 99,90 Euro | |
| Hartmut Binder: „Auf Kafkas Spuren“. Hrsg. von Roland Reuß und Peter | |
| Staengle. Wallstein, Göttingen 2023. 1.002 Seiten, 89 Euro | |
| Franz Kafka: „Der Process“. Kommentierte Ausgabe, hg. von Reiner Stach. | |
| Wallstein, Göttingen 2024. 384 Seiten, 34 Euro | |
| Rüdiger Safranski: „Kafka. Um sein Leben schreiben“. Hanser, München 2024. | |
| 256 Seiten, 26 Euro | |
| 1 Jun 2024 | |
| ## AUTOREN | |
| Helmut Böttiger | |
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