# taz.de -- taz🐾thema: Genre im Aufbruch | |
> Das lange Zeit gut abgehangen wirkende Dokumentartheater entwickelt sich | |
> zum lebhaften bis hyperventilierenden Recherchetheater | |
Bild: „Brofaromin OST“: ein Stück über Medikamentenversuche in der DDR �… | |
Von Tom Mustroph | |
Theaterereignisse, die sich auf reale Vorkommnisse beziehen, können noch | |
immer mobilisieren. Das ist die für den Theaterbetrieb gute Nachricht. Die | |
Presseabteilung des Berliner Ensembles jedenfalls hatte alle Hände voll zu | |
tun, die Anfragen zu bewältigen, die verschiedendste Medien im Vorfeld der | |
gemeinsamen Produktion vom BE, dem Volkstheater Wien und dem | |
Recherchekollektiv Correctiv über deren Berichterstattung zum ominösen | |
Treffen der deutschen Rechten in einem Potsdamer Landhotel an sie | |
richteten. | |
Das mediale Interesse hielt sich in etwa die Waage mit dem, das die defekte | |
Sprinkleranlage wenige Wochen später im selben Haus ausgelöst hatte. Das | |
zeigt: Selbst in unserer Erregungsgesellschaft kann Kunst mit kleineren | |
Katastrophen wie der gefluteten Bühne im Brecht-Haus mithalten. Denn um | |
Kunst handelte es sich ja. Volkstheaterintendant Kay Voges hatte die | |
Correctiv-Recherche zu einer szenischen Lesung aufbereitet. | |
Im eigenen Hause in Wien stellte Voges dem Regisseur und Autor Calle Fuhr | |
die Bühne zum Recherche-Solo „Aufstieg und Fall des Herrn René Benko“ zur | |
Verfügung. Fuhr zeichnete dabei nach, wie öffentliche Gelder, die | |
vornehmlich zum Erhalt von Arbeitsplätzen gedacht waren, in den Taschen | |
derer landeten, die diese Arbeitsplätze letztlich abschafften. Im Publikum | |
sah man einige mitschreibende Menschen. Augenzeugen zufolge handelte es | |
sich nicht nur um Kritiker*innen, sondern auch um Jurist*innen, die sich | |
beruflich mit dem verschachtelten Benko-Imperium auseinandersetzten. Die | |
Produktion wird auch in der nächsten Spielzeit noch gezeigt. | |
Calle Fuhr schrieb ebenfalls den Text für „Kraftwerk“, eine fulminante | |
Inszenierung des Staatstheaters Cottbus über das Erbe der | |
DDR-Industrieinfrastruktur in der Lausitz bis hin zu den Umweltschäden, die | |
die neuen Industrien anrichten. Auch diese Inszenierung, Premiere war im | |
September 2023, basierte auf Recherchen von Correctiv. Im Hause Correctiv, | |
einst vornehmlich journalistisch ausgerichtet, spürt man zunehmend die | |
inszenierende Hand von Jean Peters. | |
Der gründete einst das Peng! Kollektiv mit, das mit zahlreichen | |
Interventionen gegen Immobilienspekulanten („Haunted Landlord“, 2017), | |
gegen die Überwachungsindustrie („Pretty Good Privacy“ und „Cop Map“, | |
beide 2018) oder zuletzt gegen Amazon („Amazingbooks“ und „Ähmazon“, 2… | |
aufgefallen ist. „Ähmazon“ wurde übrigens gemeinsam mit Rimini Protokoll | |
produziert. Dieses Regiekollektiv wiederum war Pionier der vorletzten | |
Verwandlung des Dokumentartheaters. | |
Rimini Protokoll holten zu immer wieder neuen Themen sogenannte Experten | |
des Alltags auf die Bühne. Die ließen sich dann über das Verhältnis von | |
Formel-1-Rennsport und Leben im Altersheim aus („Kreuzworträtsel | |
Boxenstopp“, 2000), berichteten von den Arbeits- und Lebensbedingungen | |
indischer Call-Center-Mitarbeiter („Call Cutta“, 2005) oder referierten | |
über marxistische Theorie und Praxis („Karl Marx: Das Kapital“, 2006). | |
Nie wieder erreichte Höhe im komprimierten Darstellen von Realität bot | |
„Situation Rooms“ (2012). Das Publikum wechselte in dieser mehrstöckigen | |
Multiplayer-Video-Raum-Installation über internationalen Waffenhandel | |
permanent von Beobachter- und Recherchepositionen in aktive Rollen. Schade, | |
dass keine Institution das Geld aufbringen wollte, diese faszinierende | |
dokumentarische Arbeit als ganzjährig zu spielendes Theater-Game | |
anzubieten. | |
Stoff für Aktualisierungen böten die offiziellen Waffenlieferungen an | |
Ukraine und Israel sowie die – weniger offiziellen – Geldströme zu Hamas | |
und Putin allemal. Zum deutschen Waffenexport nach Israel arbeitet | |
gegenwärtig immerhin Forensic Architecture, eine Gruppe von | |
Wissenschaftler*innen und Künstler*innen, die sich einen Namen gemacht | |
hat mit der Rekonstruktion von Raumsituationen, in denen Verbrechen | |
begangen wurden. Dazu gehörten unter anderem die Folterungen im Gefängnis | |
von Abu Ghraib, die rassistischen Morde in Hanau 2020, Pushbacks von | |
Geflüchteten im Mittelmeer und die NSU-Morde. Forensic Architecture | |
operieren teilweise szenisch, meist aber installativ. Die Gruppe öffnet so | |
auch Räume hin zur bildenden Kunst. | |
Das Dokumentartheater selbst ist dabei eigentlich schon ein etwas | |
betagteres Genre. Eine frühe Form stellte Peter Weiss’Drama „Die | |
Ermittlung“ dar. Weiss formte die Mitschriften des Auschwitz-Prozesses von | |
1963 bis 1965 zu Gesängen um, die sich strukturell an Dantes „Göttlicher | |
Komödie“ orientieren. „Die Ermittlung“, 1965 uraufgeführt, machte | |
rückblickend den Weg frei für die erste große Welle des dokumentarischen | |
Theaters im Zuge der Revolten von 1968. | |
Und auch heute noch inspiriert Weiss Theatermacher in aller Welt. Der | |
ruandische Regisseur Dorcy Rugamba etwa inszenierte „Die Ermittlung“ in | |
Bezug auf die juristische Aufarbeitung des Völkermords 1994 in seiner | |
Heimat. Seine Produktion tourte auch im Ausland. „Überall gab es | |
Bezugspunkte zur jeweils eigenen Geschichte. Beim Gastspiel in Japan etwa | |
begann das vornehmlich junge Publikum sich in einem Gespräch nach der | |
Aufführung mit den verdrängten Geschichten über die Verbrechen der | |
japanischen Armee in China und Korea während des Zweiten Weltkriegs | |
auseinanderzusetzen“, erzählte Rugamba der taz in Kigali. | |
Auch hierzulande ist die theatrale Auseinandersetzung mit Geschichte | |
weiterhin weitverbreitet. Sie erfuhr zuletzt sogar einen beträchtlichen | |
Aufschwung. Ein Faktor dabei sind die zahlreichen Stipendien und | |
Rechercheförderungen, die vor allem – aber nicht nur – im Kontext der | |
Pandemie-Überbrückung zur Verfügung gestellt wurden und werden. | |
Recherche-Gelder triggern eben Recherchethemen. | |
25 May 2024 | |
## AUTOREN | |
Tom Mustroph | |
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