# taz.de -- Ein Konditormeister an der Kamera | |
> Kein anderer Film lockt in Kiel derzeit so viele Menschen ins Kino: In | |
> ihrer Dokumentation „Ich habe Kiel erlebt“ präsentieren Oliver Boczek und | |
> Gerald Grote die Privatfilme des Kieler Café-Besitzers Theodor Fiedler | |
> aus den Jahren 1939 bis 1955 | |
Bild: Kunstvoll: Anders als viele Amateurfilmer konnte Theodor Fiedler Bilder k… | |
Von Wilfried Hippen | |
Man sieht spielende Kinder, Soldaten, die sich mit einer großen Bombe in | |
einem Depot der Nazi-Luftwaffe in Italien abmühen, die Trümmer des | |
zerbombten Kiels und beschwipste Herren, die in den 50er Jahren ausgelassen | |
und mit viel Schnaps den Vatertag feiern. Das sind Bilder aus dem derzeit | |
erfolgreichsten Film in den Kieler Kinos. Seit knapp einem Monat läuft der | |
Dokumentarfilm „Ich habe Kiel erlebt“ von Oliver Boczek und Gerald Grote im | |
Kulturzentrum „Die Pumpe“ – und selbst die Blockbuster in den Multiplexen | |
können mit den Besucher*innenzahlen nicht mithalten. | |
In der Pumpe hat Gerald Grote auch sein Büro mit dem Verein „Das | |
ZeitZeugenStudio“. Der Film wird nun also nur wenige Meter neben dem Ort | |
gezeigt, an dem er zu großen Teilen entstanden ist. | |
Dass der Film, der fast täglich in einer Nachmittagsvorstellung gezeigt | |
wird, so viele Kielerinnen und Kieler anlockt, ist keine große | |
Überraschung: Boczek und Grote haben bereits 2018 mit „Ich habe Kiel zu | |
erzählen“ einen ähnlichen Erfolg gehabt. Der Film wurde in einem einzigen | |
Kieler Kino von 7.500 Menschen gesehen. Für den Film haben sie | |
Schmalfilmaufnahmen verwendet, die der Kieler Zahnarzt Dr. Rudolf Schulz | |
seit 1936 in Kiel gemacht hat. | |
Mit dem Nachfolgeprojekt „Ich habe Kiel erlebt“ haben Boczek und Grote | |
einen noch größeren Schatz an historischen Filmaufnahmen ausgegraben. | |
Diesmal präsentieren sie Filmaufnahmen, die der Kieler Konditormeister | |
Theodor Fiedler zwischen 1939 und 1955 gemacht hat. Mit seiner 8-mm-Kamera | |
belichtete er über fünf Kilometer Film und erwies sich dabei als | |
erstaunlich origineller und sensibler Kameramann. | |
Theodor Fiedler verstand sich dabei gar nicht als Chronist mit der Kamera, | |
sondern filmte das, was ihm am liebsten war: seine beiden Söhne, seine Frau | |
und die Vergnügungen, die sich ein erfolgreicher Geschäftsmann Mitte des | |
20. Jahrhunderts leisten konnte. Hakenkreuze sind kaum zu sehen, und | |
während seines Kriegsdienstes im Mittelmeer hat Fiedler alles andere als | |
einen militärischen Blick. Stattdessen fotografierte er auch hier spielende | |
Kinder, Eindrücke vom zivilen Leben in Kriegszeiten, aber auch Bilder von | |
den Trümmern eines abgeschossenen Flugzeugs der Luftwaffe. | |
Im Heimaturlaub filmte er dann die Trümmer seiner eigenen Welt. „Es ist der | |
Blick eines Mannes, der sich von seinem Land betrogen sieht und blinden | |
Gehorsam verabscheut“, sagt Gerald Grote dazu in seinem manchmal etwas zu | |
pathetischen Erzähltext. Der Tonfall wirkt, als sei er in jener Zeit | |
geschrieben, in der Fiedler lebte und seine Bilder schuf. Sätze wie „Eine | |
Fahrt ins Blaue kann schon mal im Grünen enden“ wirken nicht nur | |
antiquiert, sondern auch unfreiwillig komisch. Aber Grote hat versucht, den | |
Ton zu treffen, den er aus den 30 Wehrmachtsbriefen kannte, die Fiedler | |
während des Krieges nach Hause schickte. Einige dieser Briefe enthalten | |
Sätze, die von großer Sehnsucht geprägt sind. Diese Sätze sind auch im Film | |
selbst zu hören. | |
Oliver Boczek, der den Film geschnitten hat, und Gerald Grote, der | |
recherchiert und den Text geschrieben hat, haben sich nicht damit begnügt, | |
einen so genannten Kompilationsfilm mit den Aufnahmen von Theodor Fiedler | |
zu machen, sondern haben ihren Film mit Material aus anderen Quellen | |
angereichert. Zum Beispiel mit einem Interview, das Fiedlers Witwe in den | |
1970er Jahren mit einem ihrer Söhne auf dem Familiensofa geführt hat. Auch | |
die beiden Söhne Bernd und Hannes Fiedler geben selbst Auskunft über ihren | |
Vater und seine Filmbegeisterung. | |
Bernd Fiedler hat sogar die beiden Kameras hervorgeholt, mit denen sein | |
Vater vor über 80 Jahren seine Aufnahmen gemacht hatte. Mit einer von ihnen | |
filmte er das Kamerateam, das ihn gerade filmte. Das ist eine schöne | |
Doppelung, aber es sind auch die mit Abstand schlechtesten Aufnahmen des | |
ganzen Films. Grote sagt dazu, dass die Kopierwerke dieses alte | |
Filmmaterial heute nicht mehr adäquat entwickeln können – aber durch die | |
Fallhöhe dieser Momentaufnahme bekommt man auch einen Eindruck davon, wie | |
gut Theo Fiedler damals seine Bilder komponiert und fotografiert hat. | |
Das hat nichts von der Kunstlosigkeit von Amateurfilmen. Und Boczek und | |
Grote haben ihren Respekt vor diesem Bilderschatz auch dadurch bewiesen, | |
dass sie ihren Film selbst sehr sorgfältig produziert haben. Die Filmmusik | |
klingt, als hätte sie mehr gekostet als der Film selbst. Gerald Grote | |
kannte den inzwischen verstorbenen Filmkomponisten Christopher Evan | |
Ironside. Als Freundschaftsdienst hat dieser einen sehr aufwändigen, | |
orchestral klingenden Soundtrack komponiert und eingespielt, der dann von | |
Andreas Kuse fertiggestellt wurde. | |
„Ich habe Kiel erlebt“ ist ein Heimatfilm im besten Sinne. Viele | |
Kielerinnen und Kieler werden sich darin wiederfinden, denn Theodor Fiedler | |
war ein bekannter Name in der Stadt. Er war der Bauherr eines großen | |
Geschäftshauses, das damals sein stadtbekanntes Café beherbergte und noch | |
heute das Stadtbild prägt. Der Film wird also nicht gut reisen – denn schon | |
den Flensburger*innen wird vieles fremd bleiben, was für ganz Kiel zum | |
kollektiven Gedächtnis gehört. | |
„Ich habe Kiel erlebt“ von Oliver Boczek und Gerald Grote, mit Bernd und | |
Hannes Fiedler, Deutschland 2024, 54 Minuten | |
Letzte Vorstellung: Mi, 22. 5., 17 Uhr, Die Pumpe, Haßstraße 22, Kiel | |
22 May 2024 | |
## AUTOREN | |
Wilfried Hippen | |
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