# taz.de -- crime scene: Geschichte Israels aus der Perspektive des Verbrechens | |
Ich liebe dieses Land“, sagt Cohen, nachdem er auch den vielleicht letzten | |
Mitwisser seiner jahrzehntelangen krummen Touren schließlich hat umlegen | |
lassen. Cohen, das ist die graue Eminenz in diesem Roman, eine Nebenfigur, | |
die in jeder der Geschichten, die Lavie Tidhar zu einem großen Panorama des | |
Verbrechens im Staate Israel aneinandergereiht hat, am Rande präsent ist, | |
enervierend mit Bibelzitaten um sich wirft und auf unbestimmbare Art im | |
Hintergrund Strippen zieht. Über mehr als vierzig Jahre spannt sich der | |
Handlungsbogen dieses ebenso action- wie umfangreichen Romans – falls | |
überhaupt von einem Handlungsbogen die Rede sein kann; denn die | |
verschiedenen Zeiten und Schauplätze, an denen die vielen Episoden spielen, | |
werden allein durch Figuren zusammengehalten, die zu unterschiedlichen | |
Zeiten und Orten immer wieder auftauchen. | |
Es ist eine Geschichte Israels aus der Perspektive des Verbrechens, eine | |
Teil-Geschichte zumindest, die mehr als dreißig Jahre umspannt. Die | |
früheste Episode spielt 1974, die letzte 2008. Da es sich, so im großen | |
Ganzen, um wahre Ereignisse handelt – zur Demonstration historischer | |
Authentizität haben zahlreiche echte Personen der Zeitgeschichte | |
Cameoauftritte –, sind es durchaus sehr verschiedene Verbrechen, von denen | |
erzählt wird. Doch irgendwie scheinen sie auf einer übergeordneten Ebene | |
mindestens atmosphärisch alle irgendwie zusammenzuhängen, und das hat auch | |
mit der permanenten Hintergrundexistenz Cohens und der Anwesenheit einer | |
sehr hartnäckigen Journalistin an vielen Orten zu tun. | |
Der Mord an einer jungen Frau im Jahr 1974 steht am Beginn von Cohens | |
Polizeikarriere. Auch diese Episode wird nicht aus seiner eigenen | |
Perspektive erzählt, sondern aus Sicht seines Partners Eddie, der später | |
ein hohes Tier wird. Noch sind beide kleine Streifenpolizisten; doch schon | |
jetzt hat Cohen, wie Eddie halb beeindruckt, halb angewidert miterlebt, | |
keine Skrupel, auch fragwürdigste Methoden anzuwenden, um | |
Ermittlungserfolge zu erzielen. Seitenweise wird geschildert, wie ein | |
Mordverdächtiger so lange gefoltert wird, bis er gesteht. Ein anderer, | |
nicht minder Verdächtiger aber wird nicht einmal zur Vernehmung | |
einbestellt, da es sich um einen verdienten Kriegshelden handelt. | |
Morde an jungen Frauen gibt es auch in späteren Jahren immer wieder, von | |
denen die meisten nie aufgeklärt werden. Und weil das so ist, scheut Cohen | |
auch nicht vor Selbstjustiz zurück – wie er, fiktiv verbrämt, viele Jahre | |
später der Journalistin Sylvie erzählt, die darüber nichts schreiben wird, | |
da sie ebenfalls Jahrzehnte im Geschäft ist und weiß, wann Schweigen ihr | |
Überleben sichert. Die Gewalt, von der die israelische Gesellschaft in | |
diesem Thriller durchdrungen ist, scheint allgegenwärtig. Armeeangehörige | |
sind, egal welche Verbrechen sie begehen, tabu für die Rechtsorgane, und | |
Polizisten agieren Seite an Seite mit dem organisierten Verbrechen und | |
befördern den internationalen Drogenhandel. Jeder kennt jeden, alle | |
verdienen mit, und niemandem ist zu trauen. | |
Die Episodenhaftigkeit des Ganzen macht es nicht leichter, das verfilzte | |
Geflecht von Macht und Gewalt zu durchschauen – aber vermutlich geht es | |
darum auch gar nicht, sondern eben darum, dass es gar nicht geht. Mit jeder | |
neuen Episode wechselt die Perspektive, häufig auch die Zeitebene, und | |
werden neue Figuren und Handlungsorte (Libanon, Kolumbien, Los Angeles) | |
eingeführt. Auf Charakterisierungen der auftretenden Personen verzichtet | |
der Autor; sie alle sind ohnehin nur austauschbare Schachfiguren in einem | |
großen blutigen Spiel mit unklaren Regeln. Auch Cohen bleibt als Person ein | |
gesichts- und charakterloser Schemen: Ist er ein geborener Zyniker, ein | |
skrupelloser Idealist, ein heimlicher Sadist, nichts von alledem oder all | |
das zusammen? | |
Seine Funktion im Roman ist die eines unscheinbaren Teufels in | |
Menschengestalt, seine metaphorische Wirkung als Verkörperung der | |
öffentlichen Ordnung eine vernichtende Kritik am israelischen | |
Staatsapparat. Der Autor Lavie Tidhar ist in Israel geboren, lebt aber | |
schon lange in London und schreibt auf Englisch. Katharina Granzin | |
18 May 2024 | |
## AUTOREN | |
Katharina Granzin | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |