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# taz.de -- Zutritt zum anderen Leben
> In seinem Roman „Tremor“ erzählt Teju Cole, eingebettet in eine
> autofiktionale Konstruktion, von der bebenden Zerbrechlichkeit des
> Daseins nicht nur in Lagos
Bild: Teju Cole steht in der europäischen Tradition der Weltbetrachtung, erwei…
Von Eva Behrendt
Plötzlich berichten Stimmen aus der nigerianischen Metropole Lagos aus
ihrem Leben. Das ist in Kapitel 6. Namenlose Fahrer, Unternehmer:innen,
Prostituierte, Künstler:innen und im Slum Gestrandete erinnern sich
Abschnitt um Abschnitt an profane oder auch einschneidende Begebenheiten in
ihrem Leben. Fast klingt es, als würden sie aus dem Bekanntenkreis des
Autors stammen: „Dein Vater hat dir das nie erzählt?“, fragt einer. Aus all
den scheinbar dokumentarischen Miniaturen setzt sich das Bild einer Stadt
zusammen, die eine extreme, oft gewalttätige Dynamik kennzeichnet; was
eben noch hoffnungslos begann, kann im nächsten Moment zerrinnen und
umgekehrt.
Der US-amerikanisch-nigerianische Schriftsteller Teju Cole hat diese
Stimmen aus Lagos zentral eingebaut in seinen Roman „Tremor“, der auch
sonst von der bebenden Zerbrechlichkeit des Lebens erzählt, allerdings ganz
anders, nämlich eingebettet in eine autofiktionale Konstruktion.
Protagonist Tunde hat viel gemeinsam mit seinem Autor: Er ist Ende vierzig,
in Lagos aufgewachsen, unterrichtet Kreatives Schreiben an der Harvard
University Boston, er fotografiert, hält kunstgeschichtliche Vorträge,
schreibt, reist und saugt Kunst aller Gattungen auf wie ein Schwamm. Tunde
ist außerdem kinderlos verheiratet mit der japanisch-stämmigen
Naturwissenschaftlerin Sadako; eine kleine Ehekrise zieht sich durch das
Buch. Gelegentlich wechselt die personale Erzählperspektive in ein
vertrauliches Du und richtet sich augenscheinlich an einen vor Kurzem
gestorbenen engen Freund.
Cole knüpft damit an sein bisheriges Schreiben an, das seit seinem ersten
ins Deutsche übersetzten Roman „Open City“ 2012 zwischen Essayistik, Prosa
und Kritik changiert. Damals wanderte der Psychiater Julius durch New York
und las in der literarischen Tradition des Flaneurs urbane Szenen wie ein
Buch. Seither veröffentlicht Cole auch immer wieder Essaybände, die ihn als
hingebungsvollen Rezipienten zeigen, der die europäische Tradition der
Weltbetrachtung durch Kunst und Bildung, in der er durchaus steht, um ein
ähnlich reichhaltiges Reservoir Schwarzer Musik, Kunst und Literatur
bereichert und erweitert.
Auch die latente Identitätskrise, die Tunde zu Beginn von „Tremor“
verspürt, kennen Cole-Leser:innen aus früheren Büchern. Tundes Bostoner
„materielle Realität“ sei nicht der Ort, „an dem sein Geist am besten
gedeiht“, heißt es an einer Stelle. „Seine materielle Welt befindet sich im
Zentrum des weißen Wissens. Er befindet sich in diesem Zentrum und blüht
darin auf, nicht ohne Zweifel, nicht ohne Scham. Er weiß, dass ihm das nur
gelingt, weil ein anderes Leben existiert, in dem seine Wurzeln verankert
sind, ein Leben, zu dem ihm Sprache, Tanz und Musik Zutritt verschaffen.“
Etwa die facettenreiche, von Familien über Generationen hinweg
interpretierte Mandinka-Musik, die er auf einer Reise nach Bamako/Mali
hört. Oder auch, weniger spektakulär, ein Stück schwarzer Seife, das ihm
die Künstlerin Otobong Nkanga auf der documenta 14 verkaufte.
Andere Begegnungen sind verstörender. Auf Anregung einer Studentin
betrachtet Tunde etwa die auf Youtube hochgeladenen FBI-Videos des Mörders
Samuel Little. Er war der Serienmörder mit der höchsten Opferzahl in der
Geschichte der USA: Über 90 Frauen behauptete Little umgebracht zu haben,
wobei die Polizei ungewöhnlich lange brauchte, um wenigstens 50 dieser
Morde zu ermitteln – vermutlich aus strukturellem Rassismus, denn Littles
Opfer waren schwarze Frauen aus prekären Verhältnissen, für die sich
niemand einsetzte. Eine perfekte Tarnung.
Samuel Little, selbst schwarz und im Gefängnis zur Welt gekommen, malte im
Knast seine Opfer aus dem Gedächtnis. Wie Tunde von diesen
Art-Brut-Porträts über eigene Erinnerungen an Nahtoderfahrungen zum
Nachdenken über Leben und Tod im Abgebildeten kommt, wirkt fast zufällig
und ist doch mit Bedacht komponiert.
Mit von Anna Jäger gut lesbar übersetzter Lässigkeit reflektiert Cole alias
Tunde über die Bande der Kunst sein Leben. Anders als die nigerianischen
Stimmen, die ganz unmittelbar erzählen, nutzt er dazu den Dialog mit Werken
Schwarzer oder weißer Provenienz. Frei, aber nicht wahllos wechselt er
Erzählperspektiven und Textsorten: Auf seinen Bericht aus Bamako folgt ein
kunsthistorischer Vortrag zu Fragen der Restitution und zu den ethischen
Problemen, die Bilder von Blutbädern und Verbrechen wie in William Turners
Gemälde „Das Sklavenschiff“ mit sich bringen. Im Anschluss an die Stimmen
aus Lagos interpretiert der personale Erzähler aus Tundes Perspektive noch
einmal deren gefährdete Lage zwischen Lagune und Ozean, nur fünf Meter über
dem Meeresspiegel – und schließt davon auf die Mentalität der
Bewohner:innen.
Er preist ihre selbstbewusste, „vierdimensionale“ Körperlichkeit, die
demokratische Gleichheit auf den Straßen, weil „der Zufall eine enorme
Rolle spielt und das Schicksal jederzeit den Himmel zu verdüstern und den
Tag zu überfluten droht“, stuft die Besessenheit von Wetten auf die Zukunft
(Lagos gilt als Zentrum des Investment Bankings auf dem afrikanischen
Kontinent) zwischen magischem Denken und Religiosität ein. Zugleich weht
ihn der kalte Hauch der Austauschbarkeit an: „So hart war diese
Konfrontation mit der Möglichkeit seiner eigenen Ersetzbarkeit, dass er die
Stadt noch vor Einbruch der Dunkelheit verließ.“
So zieht sich ein Wechselspiel verschiedener Identitätskonzepte durch den
Roman. Im letzten Kapitel erzählt Tunde plötzlich aus der Ich-Perspektive:
Gelingt jetzt die Synthese von nigerianischen Wurzeln und Bostoner
Künstleralltag? Wäre das überhaupt erstrebenswert? Anregend und intim, fast
tagebuchartig schreibt dieses Ich über Verlustängste, beglückende
Kunstbetrachtungen und Freundschaftsfeste, kritisiert zwischendurch scharf
eine französische Spionageserie, die ihren Rassismus als besondere
Ehrlichkeit tarnt, und wird am Ende von einem rätselhaften Schwindelgefühl
erfasst: Vielleicht plädiert „Tremor“ auch dafür, erschütterbar zu bleib…
durchlässig für das Leben wie die Kunst.
4 May 2024
## AUTOREN
Eva Behrendt
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