# taz.de -- Kurze Skizze einer langen Krise | |
> Seit Jahren hat sich die Insolvenzwelle der Pflege angekündigt. | |
> Gegenmaßnahmen sind ausgeblieben. Jetzt ist sie da.Ausbaden müssen es die | |
> Hilfsbedürftigen | |
Von Benno Schirrmeister | |
Wer gerne verzweifeln will, kann ja mal nachgoogeln, ob sich diese | |
Insolvenzwelle wirklich schon seit zehn oder doch erst seit acht Jahren | |
aufbaut. So lange wird [1][ein strukturelles Problem in der | |
Pflegefinanzierung] nämlich schon als dringend bearbeitungsbedürftig | |
bestimmt. Es gibt auch zwei grundsätzliche Lösungsansätze: Die einen | |
fordern einen Komplettumbau des Pflegesystems ([2][Sockel-Spitze-Tausch, | |
bei dem der Eigenanteil auf einen Fixbetrag reduziert wird,] oder | |
[3][Vollversicherung]) – die anderen seine [4][bessere finanzielle | |
Ausstattung] (durch Beitragserhöhung, Ergänzungsversicherungen oder | |
Steuerzuschüsse). Die Befürworter*innen beider Lager blockieren sich | |
gegenseitig. Und jetzt ist sie jedenfalls da, die Pleitewelle. | |
## Das leise Ende | |
Schon 2023 hatten laut dem Branchenportal „Pflegemarkt.com“ [5][bundesweit | |
374 Dienste der ambulanten Pflege dichtmachen müssen]. Auch dem Rest der | |
Branche geht’s miserabel. Aber es ist sinnvoll, auf die nichtstationäre | |
Pflege besonders zu schauen. Wenn ein Heim in Schieflage gerät, sorgt das | |
für Aufsehen, zu recht: Es droht ja, wenn niemand es aufkauft, die gesamte | |
Lebensinfrastruktur der Bewohner*innen zusammenzubrechen. | |
Die ambulanten Dienste, dank derer Pflegebedürftige in ihrer gewohnten | |
Umgebung bleiben können, gehen dagegen leise ein. Manchmal gib’s eine | |
Meldung in der Lokalzeitung und ein Achselzucken. Häufiger gibt’s nicht mal | |
das. Dabei waren davon im vergangenen Jahr 19.356 Patient*innen | |
betroffen, fast sechsmal so viele wie vor den Heimpleiten. | |
Und ein Blick in die Gerichtsregister belegt: Der Trend hält in der | |
gesamten Branche an. Zwar berät mittlerweile eine Enquetekommission – also | |
ein Gremium, dessen Mitglieder nicht an Fraktionszwänge gebunden sind – im | |
Bundestag, wie eine Reform des Pflegesystems aussehen könnte. Aber bis die | |
Gesetz und Realität wird, dauert das ein paar Jahre. So einen Aufschub | |
kennt das Insolvenzrecht nicht. | |
Damit nicht alles in die Grütze geht, haben die Verbände der | |
Pflegeunternehmen – AGVP, APH, BAD, VDAB – [6][eine Petition gestartet], | |
die vier Sofortmaßnahmen anregt. Die erste macht gleich besonders | |
betroffen. Es ist nämlich die Forderung, dass „alle Kostenträger die | |
vorgeschriebenen Zahlungsfristen einhalten“. | |
Die Kostenträger, die nicht zahlen, das sind nämlich sehr häufig die | |
Sozialämter. Beispiel: Wenn Menschen übers zugestandene Budgets der | |
Pflegeversicherung hinaus Dienstleistungen bräuchten, sich aber den Besuch | |
der Pflegekräfte privat nicht leisten könnten, sollte es [7][Hilfe zur | |
Pflege] geben. Die muss beantragt werden. Es folgt ein oft über viele | |
Monate sich hinziehender Gutachterprozess, während dessen die Sozialämter | |
erst mal noch nichts und an dessen Ende sie vielleicht gar nichts und wenn | |
dann nur sehr zögerlich zahlen. | |
Diese Leistungen nicht zu erhalten, würde die Gesundheit der | |
Pflegebedürftigen schädigen. Also kommen die Pfleger*innen und erbringen | |
sie. Nur werden sie dann eben manchmal gar nicht, oft viel zu spät bezahlt: | |
Die Städte und Kreise Schleswig-Holsteins, das hatte der Bundesverband | |
privater Anbieter sozialer Dienste Mitte vergangenen Jahres hochgerechnet, | |
schuldeten den Pflegeanbietern des Landes rund 20 Millionen Euro. Heißt, | |
wenn’s stimmt: Es gibt Kommunen, die diesen Bereich der Daseinsvorsorge | |
einfach eingehen lassen. | |
Ähnlich brisant ist Punkt zwei der Liste, also die Forderung nach einer | |
Refinanzierung der Personal- und Sachkosten: Beide sind zuletzt stark | |
gestiegen, aber oft genug können sie nur – sehr ungesund – durch Rücklagen | |
ausgeglichen werden: Die Einnahmen steigen nicht mit. So war politisch | |
nachvollziehbar, 2022 die Tarifpflicht einzuführen. Wenn niemand mehr in | |
der Pflege arbeiten will, weil es zu mies bezahlt ist, nutzt das keinem. | |
## Beine weggetreten | |
Dass aber die Kosten bei den Diensten verbleiben, die ihre Preise nicht | |
selbst erhöhen können, hat vielen die Beine weggetreten. Denn die Pflege | |
wird nach einem sehr detaillierten Leistungskatalog vergütet: Das Anziehen | |
von Stützstrümpfen, die Hilfe beim Duschen, des Verabreichen von | |
Augentropfen ist in den meisten Bundesländern mit einer Punktzahl | |
hinterlegt, die multipliziert mit einem je nach Land variierenden Punktwert | |
zwischen 0,04586 (Nordrhein-Westfalen) und 0,0691 (Bayern, aber nur bei | |
Großraumlage), einen Fixbetrag ergibt. | |
Der [8][Katalog der vereinbarten ambulante Leistungskomplexe in den | |
Bundesländern] stammt von 2021 und die Neuberechnung wäre so kompliziert, | |
dass er sich natürlich nicht sofort ändern kann, wenn Material- oder | |
Spritkosten steigen. Er gilt auch für die Wegepauschale, die im jeweiligen | |
Bundesland im ländlichen Raum dieselbe ist, wie in den Städten und weder | |
dünne Besiedlung noch Spritkostenentwicklung noch Berufsverkehr, | |
Baustellenstaus oder Parkplatzverfügbarkeit abbildet. Sie gilt pro Fall und | |
beträgt in Baden-Württemberg 4,45 Euro. | |
4 May 2024 | |
## LINKS | |
[1] /!5772624&SuchRahmen=Print | |
[2] https://www.pro-pflegereform.de/die-reform/ | |
[3] /home4/lay/wie/Desktop/Kurzfassung_Gutachten_Pflegeversicherung.pdf | |
[4] /!5920342&SuchRahmen=Print | |
[5] https://www.pflegemarkt.com/news/veraenderungen/anzahl-schliessungen-insolv… | |
[6] https://www.openpetition.de/petition/online/achtung-professionelle-pflege-i… | |
[7] https://www.pflege.de/pflegegesetz-pflegerecht/sgb/xii/hilfe-zur-pflege/ | |
[8] https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/P… | |
## AUTOREN | |
Benno Schirrmeister | |
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