# taz.de -- Kersten Augustin Materie: Ein deutsches Wintermärchen | |
Es war einmal ein Land, das einen Aufstand erlebte. Schnee fiel auf die | |
Marktplätze und Hausdächer, als sich überall im Land die Türen hoch und die | |
Tore weit machten und die Menschen auf die Straße gingen. Nicht länger | |
wollten sie es hinnehmen, dass das Böse die Macht erobern könnte. Gemeinsam | |
liefen sie durch Dörfer und Städte, sie sahen sich unter ihren Pudelmützen | |
an und lächelten selig, weil sie das schöne Gefühl hatten, Teil von etwas | |
Größerem zu sein. | |
Und wenn sie nicht gestorben sind, skandieren sie noch heute. | |
An dieser Stelle schließen wir das Märchenbuch und wenden uns den | |
nüchternen Statistiken zu: [1][Vier bis fünf Millionen DemonstrantInnen | |
gegen Rechtsextremismus hat die taz bis Ende März gezählt.] Wenn es um | |
Straßenproteste geht, waren es wohl die größten in der Geschichte der | |
Bundesrepublik. Drei Monate nach Beginn ist es nicht einfach, ein | |
vorläufiges Fazit zu ziehen. War diese Bewegung nun erfolgreich? Und wie | |
misst man das überhaupt? | |
Die AfD liegt in Umfragen bei 16 bis 18 Prozent, Anfang Januar waren es | |
noch 22 bis 24 Prozent. Aber ob das an den Massenprotesten, an der Gründung | |
des Bündnisses Sahra Wagenknecht oder am Frühling liegt, kann niemand | |
beantworten. Und es ist auch nicht so entscheidend. Wichtiger als Umfragen | |
ist, ob sich der öffentliche Diskurs und die materielle Politik seit dem | |
Wintermärchen verändert haben, und da fällt das Zwischenfazit ernüchternd | |
aus. | |
Die Bundesregierung hat, als sie mit dem Beifallklatschen fertig war und | |
die PR-Fotos mit roten Schals und grünen Fahnen gepostet waren, die | |
Bezahlkarte für Geflüchtete eingeführt und das Gemeinsame Europäische | |
Asylsystem beschlossen. Nächste Station: d[2][as Ruanda-Modell]. Die AfD | |
braucht gar nicht an die Regierung kommen, wenn die Ampelkoalition aus | |
Angst ihre Forderungen einfach selbst umsetzt, statt den Schwung von der | |
Straße zu nutzen, um fortschrittliche Politik durchzusetzen. | |
Es wäre aber auch zu einfach, mit der Haltung des Obercheckers am | |
Straßenrand oder in der Kolumnenspalte rumzustehen und zu nörgeln. Denn was | |
die Demonstrationen im Lokalen gebracht haben, lässt sich nicht an | |
Teilnehmerzahlen ablesen. | |
Im sächsischen Freiberg hat sich aus den Demonstrationen heraus das Bündnis | |
„Freiberg für alle“ gegründet, das nun bei den Kommunalwahlen antritt. Oft | |
gingen Menschen auf die Straßen von Kleinstädten, in denen seit Jahren nur | |
noch Rechte marschierten, immer wieder montags, ob gegen Masken oder | |
Ausländer. Das Gefühl, gegen diesen Irrsinn nicht allein dazustehen, trägt | |
hoffentlich eine Weile. | |
Vor der Europawahl soll es nun weitergehen mit den Protesten, das hat in | |
dieser Woche ein zivilgesellschaftliches Bündnis angekündigt. Und sosehr | |
man ihnen dafür nur Erfolg wünschen mag, ist doch fraglich, ob es | |
ausgerechnet noch ein paar zentral organisierte Demos in Großstädten | |
braucht mit „Festivalcharakter“ und Influencern auf den Bühnen. [3][Das | |
Ziel der Demonstrationen hat Campact-Chef Christoph Bautz im taz-Interview | |
formuliert:] Die Demos sollen die Faulen vom Badesee ins Wahllokal lotsen, | |
die Unentschlossenen vor der AfD warnen und die ErstwählerInnen auch. | |
Spontane Bewegungen wie in diesem Winter lassen sich nicht einfach | |
wiederholen. Aber es wäre viel gewonnen, wenn sich die organisierte | |
Zivilgesellschaft die Frage stellen würde, was die Alternativen zu | |
Latschdemos und Kundgebungen sind, auf denen man von alternden Rockstars | |
aufgefordert wird, am Sonntag wählen zu gehen – ohne klarzumachen, dass die | |
gewählten Parteien eine Mitverantwortung tragen für die Politik der | |
Spaltung. | |
Ein Märchen würde nun mit einem Prinzen enden. In Deutschland sitzen | |
Prinzen aber wegen einer Reichsbürger-Verschwörung in U-Haft. Das | |
Wachküssen muss die Bewegung gegen rechts allein schaffen. | |
27 Apr 2024 | |
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## AUTOREN | |
Kersten Augustin | |
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