# taz.de -- „Es gibt keinen Masterplan für die Pflege“ | |
> Neue Forschungsergebnisse aus Niedersachsen zum Fachkräftemangel der | |
> Zukunft zeigen, dass komplexe Lösungen nötig sind. Die hat die Politik | |
> noch nicht gefunden | |
Interview Selma Hornbacher-Schönleber | |
taz: Herr Lehweß-Litzmann, Sie forschen zu „personenbezogenen | |
gesellschaftlich notwendigen Dienstleistungen“ (GND) wie Krankenpflege oder | |
Lehramt. Was macht sie aus? | |
René Lehweß-Litzmann: Das sind Dienstleistungen, auf die die Gesellschaft | |
nicht oder nur unter Schmerzen verzichten kann. Personenbezogenheit heißt, | |
dass Menschen an und mit Menschen arbeiten, wann und wo der Kunde sie | |
braucht. Diese Arbeit kann nicht mit den Produktivitätsfortschritten | |
anderer Branchen mithalten, weil der Dienstleistungsnehmer die | |
Geschwindigkeit mitbestimmt: Ein Schüler braucht Zeit, um etwas zu | |
verstehen, und das war in den 1970ern genauso. Insgesamt ergibt sich daraus | |
ein besonderes Arbeitskraftproblem. Wir wollten untersuchen, wie attraktiv | |
diese Berufe sind, die ja oft als nicht sehr attraktiv gelten. | |
Und? Haben sie diesen Ruf zu Recht? | |
Unser Befund ist eigentlich positiv: Das sind attraktive Berufe, trotz zum | |
Teil großer Arbeitsbelastung. Nicht wenige sind gut bezahlt, sie sind von | |
einer großen Beschäftigungssicherheit geprägt und erfüllend. Das zeigt sich | |
auch darin, dass Menschen diese Berufe seltener verlassen, als wir erwartet | |
hatten. | |
Woher kommt dann der Fachkräftemangel in den GND? | |
Am wichtigsten ist der demografische Wandel. Seit ein paar Jahren sind die | |
Babyboomer im Übergang in die Rente. Das hat zwei Konsequenzen: Erstens | |
stehen sie nicht mehr als Beschäftigte zur Verfügung, zweitens benötigen | |
sie perspektivisch mit dem Älterwerden manche Dienstleistungen verstärkt. | |
Haben sich auch gesellschaftliche Bedürfnisse verändert? | |
„Gesellschaftliche Notwendigkeit“ ist zeitveränderlich: Was heute relevant | |
ist, muss es morgen nicht mehr sein. Viele Tätigkeiten sind in den letzten | |
Jahrzehnten aus der informellen Haushaltsarbeit in die formelle Arbeit | |
gewandert. Ein massiver gesellschaftlicher Wandel. Heute arbeiten in den | |
weniger qualifizierten Berufen dieser Branchen überwiegend Frauen. Aber | |
auch bis in hochqualifizierte Bereiche – mit dem Unterschied, dass das | |
keine reinen Frauendomänen sind, zum Beispiel die Medizin. | |
Welche Rolle spielt Bildung? | |
Es gibt eine hohe Studier-Neigung in der jungen Generation und bestimmte | |
praktische Berufe werden weniger ergriffen. Die Idee, dass akademische | |
Bildung Status verleiht, hält sich, obwohl das Pendel durch den | |
Fachkräftemangel in eine andere Richtung schwingt: Es braucht auch | |
Menschen, die mit Kopf und Hand arbeiten und die nicht unbedingt eine Uni | |
besucht haben. Manche Probleme sind aber auch berufsspezifisch. | |
Welche zum Beispiel? | |
Bei Notfallsanitätern ist das Ausbildungsangebot das Nadelöhr: Menschen | |
bewerben sich zuhauf auf die Ausbildung, aber es werden zu wenige Plätze | |
finanziert, weil sie teuer sind. Oder es ist die Bekanntheit des | |
Berufsbilds: Berufsschullehrer sind gesellschaftlich wichtig, aber kaum | |
sichtbar. Und es gibt Vorurteile, etwa, dass man vom Hebammenberuf nicht | |
leben kann. Aber uns haben die Hebammen, mit denen wir gesprochen haben, | |
nicht gesagt, dass sie von ihrem Einkommen nicht leben können. | |
Spielt Geld also keine Rolle? | |
Was sie gesagt haben, ist, dass sie weniger bezahlt werden, als sie | |
Verantwortung tragen. Dass es ein Ungerechtigkeitsmoment gibt, etwa im | |
Vergleich zu Ärzten. Und es gibt auch schlecht bezahlte Care-Tätigkeiten | |
wie Pflegeassistenz. Das darf man nicht vergessen. Die hoch qualifizierten | |
Care-Berufe werden hingegen gut bezahlt. | |
Wo liegt dann das Problem? | |
Die Nachfrage in Gesundheit und Pflege wächst schnell. Das Angebot an | |
Arbeitskräften geht womöglich nicht zurück, besonders nicht im | |
hochqualifizierten Bereich, aber 2040 werden wir 3,8 Millionen mehr über | |
70-Jährige in Deutschland haben als heute. Das schafft einen enormen | |
Bedarf. Insbesondere werden Hunderttausende Menschen zusätzlich in der | |
Pflege gebraucht. Und zwar nicht nur in Ballungszentren, sondern auch in | |
peripheren Regionen. Es gibt keinen Masterplan, wie man das Pflegeproblem | |
in den Griff bekommt. Das macht das Thema gesellschaftlich so brisant. | |
Unsere Modellierung zeigt: Wenn die Menschen fehlen, führt mehr Geld nicht | |
direkt zur Lösung. Geld kann nicht schaden, aber die Lösung kann nur aus | |
vielen verschiedenen Ansätzen bestehen: mehr Aus- und Weiterbildung | |
unterstützen, Migration und Digitalisierung nutzen … | |
Was haben die Beschäftigten davon, dass sie so gefragt sind? | |
Die Knappheit der Beschäftigten stärkt einerseits ihre | |
Verhandlungsposition. Andererseits können sie ihre Arbeitsleistung weniger | |
vorenthalten, eben aufgrund der Verantwortung. Ich denke nicht, dass sie | |
nicht streiken sollten. Aber die Kraft, die Streik in anderen Branchen hat, | |
kann sich hier nicht im gleichen Maße entfalten. Arbeitgeber ist zudem oft | |
der Staat. Auf den kommen mit der ökologischen Transformation große | |
Aufgaben zu und das bei sinkendem Erwerbskräftepotenzial. Deshalb denken | |
wir, die Beschäftigten werden für sich nicht so viel aus ihrer steigenden | |
Gesuchtheit am Arbeitsmarkt machen können. | |
17 Jun 2024 | |
## AUTOREN | |
Selma Hornbacher-Schönleber | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |