# taz.de -- Herrn Haeses zart verlötete Mythen | |
> „Raumgrafiken“ hat der vor 100 Jahren in Kiel geborene Bildhauer Günter | |
> Haese seine Plastiken genannt. Ihr prägendes Material sind Zahnrädchen, | |
> Federn und Unruhen | |
Bild: Mythologischer Inbegriff des körperstarken Mannes: Herkules heißt Haese… | |
Von Bettina Maria Brosowsky | |
„Günter Haese zum 100. Geburtstag“: Dazu lädt derzeit das Sprengel Museum | |
Hannover ein. Und zeigt in einem Raum seiner Sammlungspräsentation | |
„Abenteuer Abstraktion“ sieben von Haeses außergewöhnlichen, filigranen u… | |
poetischen Kleinplastiken aus den Jahren 1963 bis 2014. Eine weitere, | |
achte, findet sich im Raum „Material“ des Erweiterungsbaus. Dort wird seit | |
2019 unter dem Titel „Elementarteile“ ein Querschnitt der Sammlung gezeigt, | |
mit deren Schenkung die Familie Sprengel die Stadt dazu brachte, das Museum | |
zu errichten. | |
Aber ob nun sieben oder doch acht Arbeiten: Damit kann es die | |
Geburtstagsschau rein quantitativ nicht ansatzweise aufnehmen mit der im | |
Sommer 2022 vom Ernst Barlach Haus [1][in Hamburg ausgerichteten | |
Retrospektive] des Gesamtwerkes Haeses. Dort waren es etwa 40 Arbeiten. | |
Aber um Vollständigkeit geht es in Hannover nicht. Zum einen wird die | |
Schenkung von vier Arbeiten aus dem Nachlass Haeses gewürdigt, zum anderen | |
das Charakteristische eines unkonventionellen Werkes in den Fokus genommen. | |
Denn Haese,1924 in Kiel geboren, 2016 bei Hannover gestorben, hat einen | |
ganz eigenen Weg in der Kunst beschritten. Als junger Mann war er noch für | |
drei Jahre Soldat im Zweiten Weltkrieg gewesen, genauer: Funker der | |
Artillerie. Auch unmittelbar nach 1945 war für ihn nicht an ein | |
Kunststudium zu denken. | |
Stattdessen folgten das autodidaktische Training, der Besuch einer privaten | |
Kunstschule in Plön, die Eheschließung mit einer Malerin. 1950 nahm Haese | |
dann sein Studium an der Kunstakademie Düsseldorf auf. Er zeichnete und | |
malte, stellte aber bald fest, dass dies nicht seine künstlerische Heimat | |
werden würde. „Der Faden war einfach abgerissen“, sagte er einmal. Er | |
wechselte in die Bildhauerklasse zu Ewald Mataré, absolvierte dort 1956 | |
sein Meisterschuljahr, zeitgleich mit dem drei Jahre älteren Joseph Beuys. | |
Unsicherheit prägte Haeses eigenes Tun. Bei Mataré beschränkte er sich | |
somit darauf, an der Ausführung von dessen Arbeiten mitzuwirken. „Man | |
kannte alles, wusste alles, und die eigenen Möglichkeiten waren einem | |
fremd“, fasste er dieser Phase zusammen. Erst 1960 konnte er sich, wieder | |
in eigenen Worten, „freischwimmen“: Da fand er nämlich beim Zerlegen einer | |
Uhr zu seinem Material. | |
In der Folge hielten die feinen Zahnrädchen aus Messing, die Federn, | |
Unruhen und kleinen Wellen Einzug in seine Arbeit: erst als | |
zweidimensionale Monotypie-Blätter – neuerlich für ihn unbefriedigend, | |
allenfalls als Vorstufe empfunden – ab 1962 dann in dem, was er als seine | |
„Raumgrafik“ bezeichnete, also dreidimensionalen, von zarten plastischen | |
Linien durchzogenen und gebauten Objekten. Dafür erweiterte er seinen | |
Materialfundus um dünne Messingdrähte, feines Gewebe und Gittergeflecht aus | |
Messing oder der etwas stabileren Phosphorbronze. | |
Der Lötkolben wurde zum primären Handwerkszeug, das fortan die | |
fantastischen Gebilde durch winzige Metallpunkte zusammenhielt. Sie sollen | |
alle ohne Skizzen oder gar exakte Planzeichnung entstanden sein, sind also | |
eine durch und durch intuitive Angelegenheit, ein Prozess des Machens und | |
organischen Wachsens, der auf die Magie des Materials und die Akribie der | |
handwerklichen Finesse setzt. Jede der maximal rund 60 Zentimeter großen | |
Kleinplastiken – lediglich Haeses turmartigen Gebilde können auf über einen | |
Meter anwachsen – hat eine äußere Umrissform, die unmittelbar Assoziationen | |
an technische Strukturen eröffnet. Sind es flach liegende Radarschüsseln, | |
aufrechte Sende- oder Lautsprecherarrangements oder gar konstruktivistische | |
Architekturvisionen? | |
Stets ist die Außenform mit jeder Menge sichtbarem Innenleben ausgefüllt: | |
flächig aufgerollte Federn, kleine Kugeln oder Zylinder aus Drahtgewebe, | |
die Staubgefäßen gleich auf Messingdrähte aufgepflanzt sind, oder, wie | |
Insekten und anderes Kleingetier, ein Volumen recht frei in Beschlag | |
nehmen. Nimmt man noch Haeses Titel hinzu: Zephir, der antike Gott des | |
milden Westwinds, Herkules, der mythologische Inbegriff des körperstarken | |
Mannes, oder Samarkand, eine magische, antike Stadt im heutigen Usbekistan, | |
verliert man sich in einer ganz eigenen, durchaus humorvollen Gedankenwelt. | |
Die erkannte auch Kunstkritik und -markt unmittelbar nach 1962. Haeses | |
Karriere verlief fulminant: 1964 eine erste Einzelausstellung in Ulm, der | |
unmittelbar einer weitere im New Yorker Museum of Modern Art folgte, sowie | |
Beteiligungen an der Biennale in Venedig, der Documenta in Kassel, der | |
Weltausstellung in Montreal. | |
Leider verschwinden die Arbeiten Günter Haeses im Sprengel Museum, | |
vielleicht dem beengten Raum geschuldet, unter Glashauben. Dadurch sind sie | |
eines Moments beraubt, das in der offenen, ungeschützten Aufstellung im | |
Hamburger Barlach Haus ihre finale Magie ausmachte: ein kinetisches | |
Potenzial, das sie mit flirrender Vibration auf winzigste Bewegungen der | |
Luft reagieren lässt. Denn natürlich hatte man sich trotz Verbot getraut, | |
sie ganz, ganz vorsichtig anzupusten. | |
Ausstellung „Günter Haese zum 100. Geburtstag, Sprengel Museum Hannover. | |
Bis 28. 7. | |
15 Apr 2024 | |
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## AUTOREN | |
Bettina Maria Brosowsky | |
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