# taz.de -- Wuppertal-OB Schneidewind im Gespräch: Die unendliche Kraft der Ne… | |
> Warum ist in der Theorie alles so klar und in der Praxis stockt es dann | |
> überall? Uwe Schneidewind, Oberbürgermeister von Wuppertal, über seine | |
> Erfahrungen nach dem Wechsel von der Wissenschaft in die Politik und die | |
> Macht der Nein-Sager. | |
Bild: Uwe Schneidewind, grüer Oberbürgermeister und selbsternannter Oppositio… | |
[1][taz FUTURZWEI] | Uwe Schneidewind ist seit Ende 2020 Oberbürgermeister | |
von Wuppertal. Er ist zwar Grünen-Mitglied, war allerdings gemeinsamer | |
Kandidat von Grünen und der CDU. Am 27. September 2020 gewann er mit 53,5 | |
Prozent die Stichwahl gegen den SPD-Amtsinhaber Andreas Mucke. Vor seiner | |
„Politiker-Karriere“ war er Präsident des Wuppertal Instituts für Klima, | |
Umwelt, Energie sowie Präsident der Uni Oldenburg. | |
taz FUTURZWEI: Lieber Herr Oberbürgermeister Schneidewind: Sie sind vor | |
drei Jahren von der Theorie in die Praxis gewechselt, von der Leitung des | |
Thinktanks Wuppertal Institut ins Wuppertaler Rathaus. Welche Erkenntnisse | |
haben Sie gewonnen? | |
Uwe Schneidewind: Das ist eine sehr allgemeine und abstrakte Frage. Früher | |
hätte ich so was verstanden. | |
Sie lachen. Kleiner Scherz zum Aufwärmen? | |
Im Ernst: Mir war sehr bewusst, dass das, was man glaubt, theoretisch | |
verstanden zu haben, doch nur ein kleiner Teil der Wahrheit ist. Deshalb | |
habe ich den Schritt ja gemacht. Dieser Gestus der Wissenschaft: Wir haben | |
verstanden. Und jetzt erklären wir euch mal, wie's geht: Das war für mich | |
zunehmend belastender geworden. Gerade nachdem ich das Buch zur Großen | |
Transformation geschrieben hatte, ein Kondensat von dreißig Jahren | |
Forschung im Wuppertal Institut. Man denkt, da ist jetzt alles drin. Aber | |
wenn es konkret wird, dann lassen sich schnell ganz viele Leerstellen | |
entdecken: Denen näher zu kommen, hat mich gereizt, als sich diese | |
Gelegenheit auftat, Oberbürgermeister von Wuppertal zu werden. | |
Sie haben die Leerstellen entdeckt? | |
Ja. Ich habe viele wichtige Erfahrungen gemacht und verstehe sehr viel | |
besser, warum Umsetzung im Konkreten so schwer ist und dass Dimensionen | |
eine Rolle spielen, die man in ihrer Tragweite und Intensität gar nicht | |
erfasst, wenn man das nur konzeptionell und theoretisch untersucht. | |
Die Stimmung in Wuppertal ist heute nicht gerade von | |
Schneidewind-Begeisterung geprägt, um es mal vorsichtig zu sagen. | |
Ich bin weit hinter dem zurückgeblieben, was ich selbst als Anspruch hatte, | |
und was insbesondere diejenigen als Hoffnung hatten, die mich gewählt | |
haben, weil sie dachten, jetzt kommt da der Nachhaltigkeitspapst und dann | |
wird gleich alles gut. Auf der anderen Seite: Dadurch, dass man im System | |
angekommen ist, weiß man jetzt, wie man an den Rädchen und Schrauben drehen | |
muss, damit es sich nach vorn bewegt, wenn vielleicht auch langsamer, als | |
man sich das ursprünglich erhofft hätte. | |
Können Sie das mal konkretisieren? | |
Es geht im konkreten politischen Tun erst mal gar nicht um die Sache und | |
Inhalte. Es geht um Menschen, es geht um Vertrauen. Es geht um die Frage: | |
Was bewegt eigentlich Einzelne in diesem System und wie bewegt man dann so | |
ein ganzes System und eine Menge von Menschen? Das ist eine Dimension, die | |
bei unserer theoretischen Betrachtung unterbelichtet ist. Ich kam als | |
komplett Systemfremder, der ja vorher weder in der Lokalpolitik noch in der | |
Verwaltung unterwegs war, und das auch noch in der Coronazeit. | |
Heißt? | |
Man kann so einen Neuen erst mal nicht einschätzen. Wenn der dann noch mit | |
irgendwelchen konzeptionellen Vorstellungen kommt, die vielleicht auch | |
bedrohlich wirken, wird das nicht durch Grundvertrauen auf der persönlichen | |
Ebene abgemildert. Die schlimmste Diffamierung war, wenn von mir als »der | |
Herr Professor« gesprochen wurde. | |
Die Diffamierung der Theorie als praxisfern? | |
Ja. Nach dem Motto: Alles, was der jetzt als Nächstes sagt, könnt ihr schon | |
mal vergessen. Das zu durchbrechen, hat anderthalb, zwei Jahre gedauert, | |
weil während Corona die Erfahrung des persönlichen Kontaktes fehlte, den du | |
als Oberbürgermeister zu den Menschen hast. Erst dadurch lernen Menschen | |
dich kennen und denken, hey, mit diesem Professor kann man ja reden. Und | |
dann gab es in Wuppertal noch mal Sonderfaktoren, weil meine Wahl durch ein | |
grün-schwarzes Bündnis möglich wurde, das aber keine Mehrheit im Rat hatte. | |
Die SPD ist die stärkste Fraktion, dann CDU, dann Grüne. | |
Die SPD war tief getroffen, dass ihr Amtsinhaber aus dem Amt verdrängt | |
wurde, und vom ersten Tag an in ganz starker Oppositionsrolle, sehr gut | |
aufgestellt als Fraktion mit einem sehr erfahrenen Fraktionsvorsitzenden. | |
Die haben dann die Minderheitskoalition aus CDU und Grünen kaum richtig | |
durchatmen lassen. Durch diese Konstellation hat es dann auch das | |
schwarz-grüne Bündnis zerrüttet. Dadurch stand ich dann plötzlich allein | |
da. Ich sage immer, ich bin erster Oppositionsführer. | |
Was ist die prägende Erkenntnis über die Umsetzung von sachorientierter | |
Politik? | |
Da ist die unendliche Kraft des Neins. Jemand, der eigentlich überhaupt | |
keinen Gestaltungsanspruch hat und vielleicht auch gar kein | |
Gestaltungsvermögen, hat im politischen Betrieb einfach dadurch eine | |
Machtposition, dass er verhindert und nein sagt. | |
Warum macht ihn das stark? | |
Damit baut er eine gewaltige Verhandlungsposition gegenüber denjenigen auf, | |
die im System produktiv etwas nach vorn bewegen wollen. Typen wie ich sind | |
die dankbarsten Opfer. Leute, die in die Politik gegangen sind, weil sie | |
echt was gestalten wollen, sind beliebig erpressbar, wenn sich jemand | |
reinstellt und sagt: Also, Herr Schneidewind, das sehe ich überhaupt nicht | |
so, das werde ich auf jeden Fall verhindern. Du hast die ganzen guten | |
Argumente und dann sagt der andere: Herr Schneidewind, jetzt reden wir erst | |
mal darüber, was ich will. Und wenn wir das verhandelt haben, kann ich | |
gucken, was ich von Ihrem abstrusen Zeugs unterstütze. Nein-Profis haben | |
eine starke Ausgangsposition und können sich gerade in diesem System | |
hervorragend entwickeln. In der Wirtschaft, in der Wissenschaft und anderen | |
Bereichen kommst du mit so einem reinen Nein nicht weit. Im politischen | |
System ist das eine Machtquelle. | |
Ein Nein kann auch gute Argumente haben. | |
Selbstverständlich haben Nein-Profis eine wunderbare Rhetorik drumherum, | |
warum sie nur das Beste für die Stadt und den Globus wollen. Es gibt aber | |
noch einen interessanten Punkt: In der Lokalpolitik kann viel Relevantes | |
ermöglicht oder eben auch verhindert werden bei strukturell angelegter | |
Verantwortungslosigkeit. | |
Was heißt das genau? | |
Jemand, der sich ehrenamtlich in einen Stadtrat wählen lässt, der muss sich | |
nicht verantworten. Es droht keine Klage, dass er den Fortschritt in dieser | |
Stadt systematisch verhindert hat oder völlig unqualifiziertes Personal | |
ausgewählt hat, weil es vielleicht gerade das richtige Parteibuch hatte. | |
Und damit trifft man immer auch auf Personen, die destruktive Strategie | |
beliebig praktizieren können, ohne dafür in Rechenschaft zu kommen. Das | |
gilt auch mit Blick auf den populistischen Rand: Das sind in besonders | |
krasser Form Verhinderer und Demokratiezerstörer. Die richten Schlimmstes | |
an, aber werden von niemandem in Haftung genommen. Das Schlimmste, was | |
passieren kann, ist, dass sie entlarvt werden, und dann werden sie nicht | |
mehr gewählt. | |
Für das, was du nicht tust, wirst du nicht haftbar gemacht. Das gilt auch | |
für die Bundespolitik der Merkel- und SPD-Jahre. Wenn wir jetzt mal unseren | |
Wirtschaftsminister nehmen, den Vizekanzler, er gilt als Meister des guten | |
Kompromisses. Zufrieden mit seiner Transformationspolitik ist niemand. | |
Ja. Robert Habeck hat eine ähnliche Herausforderung. Ein | |
Transformationsanliegen ist völlig ungeeignet, um Politik zu machen. Damit | |
ist man ein unwahrscheinlich angreifbares Wesen. An Beispielen wie Herrn | |
Weselsky lässt sich eindrucksvoll beobachten, wie weit du als disruptiver | |
Neinsager kommst. Das ist ein Phänomen im politischen Betrieb, das | |
hochgefährlich ist. | |
Was braucht man, um als professioneller Neinsager dauerhaft erfolgreich zu | |
sein? | |
Als Neinsager erwirbt man sich Verhandlungskapital. Die andere Seite muss | |
dir irgendetwas bieten, um das Nein zumindest abzumildern. Die | |
erfolgreichen Neinsager setzen dieses Verhandlungskapital zu ihrer | |
persönlichen Stabilisierung ein. Du versorgst Leute mit Jobs, die sie nie | |
bekommen würden, wenn du sie nicht besorgt hättest. So entstehen Netzwerke | |
der Mittelmäßigkeit. Zum Teil ist es dann eben ein bestimmter | |
Ausschussvorsitz oder eine Verwaltungsratsmitgliedschaft, die mit Status | |
und vielleicht auch mit Aufwandsentschädigungen verbunden ist. Das sind | |
alles Währungen in dem System. Das geht dann nach dem Motto: Herr | |
Schneidewind, dieses Verkehrsanliegen ist nicht unsere Sache, das | |
verhindern wir jetzt erst mal, aber wir haben doch da noch den | |
Verwaltungsrat zu besetzen. Dadurch entstehen dann Systeme von | |
Abhängigkeiten, die innerhalb von Fraktionen Mehrheiten sichern und die | |
Macht derjenigen stabilisieren, die ihr durch das Nein erworbenes Kapital | |
klug eingesetzt haben. | |
Ein Oberbürgermeister-Kollege sagte uns: Wenn du da neu reinkommst, dann | |
testen die auch erst mal, wer du bist und was du draufhast und wie weit sie | |
mit dir gehen können. Haben Sie diese Erfahrung auch gemacht? | |
Absolut. Die Hoffnung war: Wenn wir den Schneidewind gleich mürbe schießen, | |
dann sind wir den 2021 mit der Bundestagswahl wieder los. Wenn der merkt, | |
was das für ein Höllenritt für ihn wird, wird der mit fliegenden Fahnen | |
nach Berlin gehen, sobald er irgendeinen Anruf bekommt. Es kam noch dazu, | |
dass die wichtigste regionale Zeitung sich auch auf mich eingeschossen | |
hatte. Die Fachqualifikation, auch die persönliche Qualifikation, ist erst | |
mal überhaupt nichts wert, solange man sich nicht in die Spielregeln der | |
Machtproduktion einklinkt. Hat man das erfolgreich gemacht, ist es | |
vielleicht irgendwann nicht mehr schädlich, dass man auch was draufhat. | |
Wenn Sie die Politik-Realität beschreiben, dann würde ich als politischer | |
Gegenspieler sagen: Ja, wenn der Herr Professor die Hitze nicht aushalten | |
kann, dann soll er nicht in die Küche gehen. | |
Stimmt. Deshalb habe ich auch extremen Respekt vor den Kolleginnen und | |
Kollegen, die schon lange und erfolgreich im Amt sind. Das ist ein | |
Zehnkampf. Und da kann man sagen: Toll, Schneidewind, wie du acht Sachen | |
beherrschst. Aber wer im Stabhochsprung immer schon bei zwei Meter reißt, | |
der wird eben nie Olympiasieger. Und wenn du dann so zart besaitet bist, | |
dass du so was nicht abkannst, dann ist das eine der nicht beherrschten | |
Disziplinen, die nötige Härte mitzubringen. Aus inneren und äußeren | |
Kraftquellen schöpfen zu können, das ist in einem solchen Amt genauso | |
wichtig, wie andere Fähigkeiten. Viele in meinem persönlichen Umfeld hatten | |
mich deshalb von vornerein gewarnt: Uwe lass das, das ist nichts für dich. | |
Und? | |
Ich kriege auch Stabhochsprung inzwischen hin. | |
Ihr sozialökologischer Oberbürgermeister-Kollege Boris Palmer sagt, man | |
brauche eine zweite Amtszeit, um Dinge wirklich entwickeln zu können. Bei | |
Ihnen hört sich das fast so an, als hätten Sie schon abgeschlossen. | |
Boris Palmer und auch andere, die in dem System viel länger und auch | |
erfolgreich unterwegs sind, ziehen Kraft und Motivation aus Quellen, die | |
man, glaube ich, komplett unterschätzt. Dazu gehört vor allem die | |
Verwurzelung in der Stadt. Wenn ich zu einer Feuerwehr-Veranstaltung gehe, | |
und das ist vielleicht jetzt nicht so mein Terrain, dann treffe ich da aber | |
den Dieter und den Klaus, mit denen ich in die Grundschule gegangen bin und | |
eine gemeinsame Geschichte habe. Oder du kommst an Orte, mit denen du ganz | |
bestimmte Dinge aus deiner Jugend oder Kindheit verbindest. Das ist eine | |
emotionale Bindung an den Ort und die Menschen über einen sehr langen | |
Zeitraum. Wenn jemand von außen kommt, hängt die Verankerung stärker an | |
Fakten. Das ist nicht die gleiche Intensität. | |
Sie leben doch seit Jahren in Wuppertal? | |
Die Leidenschaft, mit der man sich für die Stadt einsetzt, kann ähnlich | |
sein. Aber die biografische Bindung ist entscheidend dafür, was du bereit | |
bist, einzustecken und wie viel eigene emotionale Energie und Kraft man in | |
eine zweite oder dritte Amtszeit stecken kann. | |
Und? | |
Ich habe das noch nicht entschieden. Ich habe angekündigt, dass ich das | |
Ende dieses Jahres entscheide, weil ich eben merke, dass mir der Job mit | |
jedem Monat mehr Spaß macht. | |
Das kommt jetzt überraschend. | |
Ja. Seit ich aus dieser Hölle der ersten beiden Jahre heraus bin, spüre ich | |
immer mehr, wie viele befriedigende Momente gerade durch die unmittelbare | |
Interaktion entstehen und wie die Dinge auch vorangehen. Ich verstehe | |
jetzt, warum Leute total gern Oberbürgermeister sind. Aber es geht auch um | |
eine Konstellation, die der Stadt dient. Wir haben aktuell eine | |
Grundstimmung mit viel Grünen-Bashing. Es ist alles dafür angerichtet, | |
einen Wahlkampf zu inszenieren, in dem es nur um eines geht: deutlich zu | |
machen, was das für ein Griff ins Klo war. | |
Sie. | |
Fünf Jahre mit diesem Grünen Oberbürgermeister und seinen theoretischen | |
Konstrukten. Wenn das so käme, entstünde für die Stadt etwas total | |
Destruktives und eben kein Wahlkampf, der nach vorn geführt wird und die | |
Frage klärt: Wo wollen wir hin? Am Ende gewinnt die- oder derjenige die | |
Wahl, die oder der dieses destruktive Geschäft am besten beherrscht. Ich | |
sage den beiden großen Parteien heute schon: Wenn ihr Kandidaten | |
präsentiert, von denen ganz viele das Gefühl haben, die sind für die Stadt | |
gut, die bringen sie voran, die verbinden wieder, bin ich der Letzte, der | |
das verhindern will. Wenn es aber keine richtig guten Kandidaten sind, dann | |
müsst ihr mit mir rechnen. | |
Dieses Auseinanderfallen des Symbolischen und des Praktischen ist ja | |
vermutlich auch der Grund, warum in bestimmten, gerade sich progressiv | |
nennenden Kreisen das Symbolische so unglaublich große Bedeutung hat. | |
Symbolisch kann man leicht progressiv sein. Wenn man aber anfängt, Ernst zu | |
machen, wird es schwierig und diffus. Und da ist die Frage, wie man dann | |
trotzdem praktisch etwas voranbringen kann. | |
Ja, dieses Auseinanderfallen des Symbolischen und Praktischen macht mir auf | |
eine besondere Art zu schaffen. Gar nicht jetzt wegen Grüncodierung, | |
sondern weil ich stets einen Hang gehabt habe, konkrete | |
Umsetzungsverantwortung zu übernehmen. Als Unipräsident und auch im | |
Wuppertal Institut habe ich auf Kosten des Äußeren und Symbolischen oft | |
viel zu sehr daran gearbeitet, dass nach innen der Laden läuft. | |
Was meinen Sie? | |
Nehmen Sie Ernst Ulrich von Weizsäcker, der durch seine geniale | |
Persönlichkeit nach draußen einen großen Effekt erreichte, weil er wusste, | |
darum geht es. Ob der Laden ökonomisch läuft und drinnen alles gut | |
funktioniert, darauf habe ich dagegen immer viel Energie verwendet. Das ist | |
hier in der Stadt ähnlich. Ich versuche, die konstruktiven Leute zu | |
empowern, schaue auf die richtige Kultur und Strukturen in der Verwaltung, | |
um eine Organisation mit 5.000 Menschen handlungsfähig zu machen. Die | |
Institutionen, die ich verlassen habe, sind auch nach meinem Weggang weiter | |
aufgeblüht, weil die Grundlagen gelegt wurden. Wie gut ein Manager war, | |
merkt man wirklich erst zwei bis drei Jahre, nachdem er gegangen ist. | |
Politik dagegen läuft im Wesentlichen über die symbolische Inszenierung im | |
Hier und Jetzt. | |
Verstehen wir das richtig: Sie machen zu wenig Symbolpolitik? | |
Sagen wir so: Ich verstehe inzwischen besser, warum in Spitzenpositionen | |
Verantwortliche nicht nur ihre Büroleitung, sondern auch immer ihre | |
Kommunikationschefin mitnehmen. Du brauchst eine Person und ein Team, das | |
sich ganz auf die symbolische Story konzentriert: Mach das oder mach das | |
nicht. Aber was es wirklich braucht, um komplexe Systeme gut zu machen, ist | |
oft etwas ganz anderes als das, was es in der Symbolwelt braucht, um | |
gewählt oder wiedergewählt zu werden. Mein Hauptanliegen in den kommenden | |
zwei Jahren ist es, einen Verwaltungsvorstand zu schaffen, der unabhängig | |
vom Ausgang der nächsten Kommunalwahl produktiv zusammenarbeitet. Es geht | |
um eine Leitungsmannschaft, die mit dem ganzen Führungskräfte-Team eine | |
Kultur des produktiven Bewegens etabliert. Nur so ist zu verhindern, dass | |
eine Stadt nach Wahlen erst mal über einige Zeit lahmgelegt ist, bis sich | |
alles komplett neu eingependelt hat. | |
Sie sagten, Ihre Stimmung steigt. Was genau führt dazu? | |
Das eine ist das lustvolle Experimentieren. Wir haben in einer Stadt, in | |
der verkehrspolitisch überhaupt nichts gelaufen ist, über Modellversuche | |
und Experimente plötzlich Plätze frei bekommen, die über zwanzig Jahre | |
immer autodominiert waren. Über dieses Ausprobieren und die positiven | |
Erfahrungen kriegst du dann auch die entsprechende Unterstützung und die | |
Mehrheiten. Dann gibt es in Wuppertal grandiose Initiativen aus der | |
Zivilgesellschaft: Die Wuppertalbewegung mit der Nordbahntrasse, das | |
soziokulturelle Zentrum Utopiastadt und alles, was um diesen ehemaligen | |
Bahnhof Mirke herum entstanden ist, das Klimaquartier Arrenberg und vieles | |
mehr. Diese Initiativen sind ein Motor, den wir mit vollem Elan aus der | |
Verwaltung heraus unterstützen und flankieren. Das ist ein zweiter | |
zentraler Mechanismus, der dazu führt, dass wir Erfolgsgeschichten aus | |
Wuppertal erzählen. | |
Und der dritte? | |
Eine dritte Strategie, und darum habe ich mich da so reingekniet, ist es, | |
ein Dachprojekt zu schaffen, in das ich ganz viele Themen reinhängen kann. | |
Dafür haben wir die Bundesgartenschau 2031. Bundesgartenschauen sind ja | |
heute keine Blümchenschauen mehr. Sie sind ein schönes Projekt für die | |
Bürger und ein großes Stadtentwicklungsprojekt zugleich. Für den | |
produktiven Teil der Stadtgesellschaft ist eine Buga etwas, mit der | |
Zukunfts- und Transformationsthemen vorankommen, ohne dass man | |
ideologischen Ballast mit sich trägt, weil man einfach gern die eigene | |
Stadt ins Schaufenster stellen und etwas vorzeigen will, wenn dann zwei bis | |
drei Millionen Menschen kommen, um sich das anzuschauen. | |
Um den Bogen zu schließen: Ihre praktischen Erfahrungen sind ja auch | |
theoretisch sehr ertragreich. Es bringt die Sache voran, wenn die Theorie | |
versteht, weshalb Prozesse praktisch eben doch sehr komplex sind, langsam | |
sind und dass Widerstände häufig nicht mit Überlegung, Argumentation, | |
Fundament zu tun haben, sondern ganz andere Grundlagen haben. | |
Richtig. Parallel zu meiner Arbeit mache ich mir ständig Notizen. Das ist | |
vermutlich etwas Wichtiges und Wertvolles, was ich eines Tages in den | |
Diskurs zurückgeben kann, dann als Sprecher mit einer besonderen Autorität | |
durch die eigenen Erfahrungen im System, die die Debatte erweitern und | |
fundieren. | |
Die Große Transformation, Teil 2, also »Die Kleine Transformation«. Sie | |
lachen? | |
Mir wird hoffentlich ein originellerer Titel einfallen. Aber ich kann dann | |
tatsächlich erklären, was warum funktioniert hat und warum anderes nicht | |
gekommen ist. | |
Eine Grundthese ist, dass die soziale Frage im Grunde so mit der Gegenwart | |
verhaftet ist, dass diese verständliche Fixierung auf die Gegenwart | |
ökologische Politik extrem erschwert oder sogar unmöglich macht. Wie sind | |
Ihre Erfahrungen? | |
Entsprechend. Vor Ort zeigt sich das sehr deutlich. Was jetzt wirklich in | |
den Kommunen unter den Nägeln brennt: Wo kommt der Kitaplatz her? Wie und | |
wo beschule ich eigentlich die Kinder? Jetzt zu argumentieren, dass du auch | |
mal aus städtischem Haushalt zwanzig bis dreißig Millionen in die Hand | |
nehmen musst, um bei der energetischen Gebäudesanierung richtig Power zu | |
machen, würde mir sofort abgeräumt werden, weil es eben heißt: Jetzt muss | |
erst mal diese Schule fertiggebaut werden. Auf der lokalen Ebene ist | |
Klimaschutz nur dann argumentierbar, wenn das Basale geregelt ist. In | |
Städten wie Wuppertal und vielen anderen ist das Basale aber noch nicht | |
geregelt. Und so bleibt diese grüne Transformation oft nur ein reines | |
Randthema. Das ist frustrierend. | |
Wie steht’s denn mit unserem schönen Thema Postwachstum? | |
Es ist schon auf Bundesebene schwierig, einen weiterentwickelten | |
Wirtschaftsdiskurs zu führen. Wie gestalten wir wachstumsresilientere | |
Gesellschaften? Auf lokaler Ebene hast du im politischen Raum mit diesen | |
Fragen faktisch keine Chance. Da geht's um mehr Gewerbeflächen und den | |
Ausweis von neuen Wohnflächen. Eine lokale Postwachstums- und | |
Suffizienz-Debatte auch nur als Diskursraum aufzumachen, wäre der komplette | |
politische Selbstmord. Das Skandalisierungspotenzial ist viel zu groß, nach | |
dem Motto: Jetzt dreht der Schneidewind komplett durch. | |
Ist also, und das ist ja wirklich eine Frage, die man ernst nehmen muss, | |
ist Politik mit postfossilem Transformationsanspruch unmöglich? | |
Das sollte man jetzt nicht anekdotisch an meinem Einzelfall analysieren. | |
Wichtig ist es, zu verstehen, warum jemand, dem man besonders viel | |
Potenzial zugetraut hätte, genauso gnadenlos in der Realität ankommt wie | |
andere. Und dann wiederum andere viel mehr hinkriegen, als man von ihnen | |
vorher gedacht hätte. Es läuft ja eben an vielen Ecken doch relativ viel, | |
weshalb es wichtig ist, diese Erfolgsfaktoren herauszuarbeiten. Um Ihre | |
Frage zu beantworten: Ich glaube nach wie vor, dass Transformationspolitik | |
möglich ist. | |
Da bietet sich jetzt das wunderbare Aperçu von Daniel Cohn-Bendit an: Wir | |
haben keine Zeit mehr, aber wir müssen sie uns nehmen. | |
Ich würde das eins zu eins unterschreiben, Politik mit | |
Transformationsanspruch ist langsamer und extrem voraussetzungsvoll. Es | |
geht ja um ein gesellschaftliches Transformationsprojekt. Und wenn uns die | |
Gesellschaft auseinanderfliegt, und das droht sie ja zurzeit, dann wird es | |
unmenschlich. Auch in einer 1,5-Grad-Welt. Das muss einem bewusst sein. Es | |
gibt nicht den Imperativ der Physik. Es gibt einen Imperativ des | |
gesellschaftlichen Miteinanders. | |
Dieser Beitrag ist in unserem Magazin taz FUTURZWEI N°28 erschienen. Lesen | |
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19 Mar 2024 | |
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## AUTOREN | |
Peter Unfried | |
Harald Welzer | |
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