# taz.de -- Mediathek der Bewegung | |
> Das Onlinearchiv der Freien Radios ist eine Wundertüte des Wahnsinns. Und | |
> viel eher Kulturerbe als so manches andere | |
Von Jan-Paul Koopmann | |
Es gibt nur wenig auf der Welt, das Linksradikalen mehr Freude bereitet, | |
als endlose Vorträge zu halten. Außer vielleicht: endlosen Vorträgen | |
zuzuhören. Natürlich ist es ein Running Gag, aber eben einer mit doch sehr | |
wahrem Kern, dass unter jeder Ankündigung potenziell endloser | |
linksradikaler Vortragsveranstaltungen früher oder später die berüchtigte | |
Frage aufploppt: „Wird es einen Audiomitschnitt geben?“ Und erstaunlich oft | |
lautet die Antwort schlicht „Ja.“ | |
Dass man sich für die Sternstunden und Tiefschläge linker Debatten heute | |
nicht mehr an missmutigen Gesichtskontrolleur:innen vorbei an ihre | |
verrauchten Austragungsorte schleichen muss, ist nicht zuletzt das | |
Verdienst freier alternativer Radiosender. Die waren der Szene immer schon | |
nah, haben ihre Vorgeschichte nicht selten als Piratensender in der | |
Illegalität, beginnend mit [1][Radio Dreyeckland], das seit den 1970er | |
Jahren zwischen Schweiz, Frankreich und Deutschland die Anti-AKW-Bewegung | |
begleitete. | |
Bis heute ist ein Teil der inzwischen liberalisierten Privatradiolandschaft | |
personell und räumlich mit den linken Zentren verbandelt. Ganz besonders | |
gilt das für um die Jahrtausendwende entstandenen Projekte wie das | |
[2][Freie Sender Kombinat (FSK) in Hamburg] oder [3][Radio Corax aus | |
Halle]. Und die spielen aller Sorgen um Frequenzen und Senderklassen zum | |
Trotz auch im Internet und sozusagen bundesweit in den Jugendzimmern des | |
kürzlich anpolitisierten Nachwuchses. | |
## Ausdrückliche Feindschaft | |
Besucht man [4][das Audioportal Freier Radios] im Internet unter | |
www.freie-radios.de, findet man mehr als 60.000 Beiträge aus der [5][Welt | |
freier Radios]. Was natürlich nicht gleichbedeutend mit linken Politgruppen | |
ist, aber sich doch erklärtermaßen (und aus der gelebten Praxis heraus) als | |
basisdemokratisch und unkommerziell versteht – und in ausdrücklicher | |
Feindschaft gegenüber „Sexismus, Antisemitismus, Rassismus oder | |
Faschismus“. | |
Über die Jahre ist das gemeinsame Archiv dieser Sender zu einer Mediathek | |
der Linken geworden: eine Wundertüte, die für Außenstehende mitunter nicht | |
ganz einfach zu navigieren sein mag, dafür bemerkenswert dichte Einblicke | |
ins Herz der Bewegung liefert. Und in ihre Geschichte: von der wochenlangen | |
Liveberichterstattung über geräumte Bauwagenplätze in Hamburg mit | |
Servicehinweisen über die aktuellen Sammelplätze und Absperrungen der | |
Polizei („Wir geben den Zuhörenden nochmal die Nummer des | |
Ermittlungsausschusses bekannt“) über Veganismus und Menschenhass – oder | |
den „Acid Communism“: das Scheitern von Psychedelika für die freie neue | |
Welt in den 1960er Jahren. | |
Zum Teil sind das journalistische Formate: Interviews, Kommentare, Features | |
oder Berichte, die ein Geschehen aufbereiten und verorten. Radio eben, auch | |
wenn aus rechtlichen Gründen beim Archivierten nicht selten auf die Musik | |
verzichtet werden muss. Noch spannender für linke Theorie und Praxis sind | |
aber ohnehin die so beliebten und eben nicht bearbeiteten Mitschnitte von | |
Diskussionsveranstaltungen, inklusive ihrer Zwischenrufe, brüchig werdender | |
Stimmen und zarter Moderationsversuche in verbissen-antiautoritärer | |
Umgebung. | |
Es war mal eine große Hoffnung auf die Wissensproduktion im Web 2.0, die | |
hier im erst mal dröge scheinenden Archiv noch immer überwintert. Mag ja | |
sein, dass neun von zehn Politblogs, die solche Sounddateien früher | |
eingebunden, verbreitet und diskutierbar gemacht haben, heute irgendwo als | |
Datenmüll auf untoten Plattformen verrotten – aber geben tut es sie schon | |
noch, diese ominösen Audiomitschnitte. | |
Und wer weiß: Vielleicht macht sich ja irgendwann eine neue linke | |
Generation ans Bergen dieser Inhalte, wenn sie der Aufmerksamkeitsökonomie | |
bescheuerter Like-oder-Dislike-Debatten auf sozialen Medien erst | |
überdrüssig geworden ist. Mit etwas Glück ist es bis dahin immer noch da, | |
dieses Sammelbecken historischer Auf- und Umbrüche, voller | |
Fehleinschätzungen, knapp verpasster Siege, grandioser Experimentalmusik | |
und mitunter verzweifelter Notwehraktionen gegen staatliche Repression. | |
Alles andere wäre eine kleine Tragödie. | |
30 Mar 2024 | |
## LINKS | |
[1] /!5972923&SuchRahmen=Print | |
[2] /!5317368&SuchRahmen=Print | |
[3] /!5968496&SuchRahmen=Print | |
[4] https://www.freie-radios.de | |
[5] https://www.freie-radios.de/radios.html | |
## AUTOREN | |
Jan-Paul Koopmann | |
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