# taz.de -- Juli Zeh über die Stimmung im Osten: „Lasst uns doch in Ruhe“ | |
> AfD, Ost-Wahlen, Habeck, „urbane Eliten“ und „Peripherie-Eier“: Das | |
> taz-FUTURZWEI-Weiterdenken-Gespräch mit der Schriftstellerin Juli Zeh. | |
[1][taz FUTURZWEI] | Das jüngste Buch der Schriftstellerin Juli Zeh | |
Zwischen Welten war ein E-Mail-Roman, in dem ein kritisch-woke sein | |
wollender Hamburger Spitzenjournalist und eine woke-kritische Brandenburger | |
Öko-Bäuerin, einst engste Studienfreunde, sich mit jeder Mail immer weiter | |
voneinander entfernten. Er erklärt ihr die bessere Welt schön vom Büro aus, | |
sie praktiziert die Veränderungen (Öko, Bio, Nachhaltigkeit) und fühlt sich | |
dabei von Politik und Gesellschaft im Stich gelassen. »Du merkst nicht mal, | |
wenn du über Dinge redest, von denen du keine Ahnung hast«, sagt sie zum | |
Checker-Journalisten. Beim taz FUTURZWEI-Interview per Zoom fährt Zeh mit | |
dem Auto gerade Richtung Potsdam, zweimal bricht das Gespräch wegen eines | |
Funklochs ab, einmal fährt sie an den Straßenrand, weil es wegen | |
protestierender Bauern nicht weitergeht. | |
taz FUTURZWEI: Liebe Frau Zeh, die »Mitte der Gesellschaft« ist für die | |
einen ein »linksgrünes« Terrorunternehmen, das sie zwingen will, anders zu | |
sprechen, ihre Heizung rauszureißen und alle Fremden ins Land zu lassen, | |
die rein wollen. Für andere ist sie ein haltungsloser Haufen, der umkippt, | |
sobald ein Nazi kommt und sagt, jetzt wird marschiert. Wer ist die Mitte | |
für Sie? | |
Juli Zeh: Oh Gott, die arme Mitte! Man spricht gern über sie. Und es | |
stimmt: Entweder wird sie als wehrloses Opfer dargestellt, das verführt, | |
betrogen oder zumindest viel zu wenig beachtet wird. Oder sie ist halt | |
Täter und in Wahrheit schon immer mit einem Bein in einer Nazi-Partei. | |
Und? | |
Es ist gar nicht so leicht, die Mitte zu definieren. Ist das was | |
Ökonomisches, also eine Art Mittelstand? Oder sind das alle, die keine | |
extremen Parteien wählen? Ich glaube, die meisten Menschen zählen sich | |
selbst zur Mitte. Es gilt quasi: Mitte ist immer da, wo man selbst gerade | |
ist. Also eine Menge unterschiedlicher Menschen aus allen möglichen | |
Gesellschaftskreisen. Insgesamt würde ich sagen, die Mitte ist besser als | |
ihr Ruf. Ich empfinde die Mehrheit der Mitbürger, wie sie mir begegnen, als | |
gemäßigt und pragmatisch. Außerdem gesegnet mit einem gesunden Empfinden | |
für eine Mischung aus Eigeninteresse und Gemeinwohl, also weder komplett | |
altruistisch, immer nur für die anderen, für das große Ganze streitend, | |
noch total egoistisch. Damit ist durchaus Staat zu machen. Auch im wahrsten | |
Sinne des Wortes. | |
Sie wollen die Lage positiv sehen? | |
Ich halte Optimismus sowieso für einen Imperativ, insbesondere im | |
Politischen. Fatalismus ist gefährlich und nutzt immer den Radikalen. Zum | |
anderen scheint es mir, ich sag das vorsichtig, fast ein klein wenig | |
dekadent, sich in einen Fatalismus hineinfallen zu lassen. Man muss unsere | |
Situation und Zukunftsaussichten auch mal in Relation zu anderen Zeiten und | |
Orten setzen, und dann sieht man, dass wir Grund zu Dankbarkeit und zur | |
Bescheidenheit haben. Und außerdem genug Anlass, weiter an das große | |
Menschheitsprojekt Fortschritt zu glauben. | |
Sie leben nicht in einer Bubble der »urbanen Eliten«, sondern in | |
Brandenburg auf dem Land. | |
Ich habe das Privileg, durch meinen Wohnort auch immer Leute | |
kennenzulernen, die sonst für uns Akademiker eher keine Ansprechpartner | |
sind, weil man sich gar nicht mehr trifft. | |
Sind Sie da inzwischen eingemeindet oder eher Fremdkörper? | |
Ich bin schon allein deswegen Fremdkörper, weil ich nicht hier geboren bin | |
und weil die meisten anderen sehr stark über Verwandtschaftsverhältnisse | |
verwurzelt sind, also irgendwie ist jeder mit jedem um drei Ecken verwandt. | |
Dadurch gehöre ich nicht richtig dazu, bin aber anscheinend einigermaßen | |
integrationsfähig. | |
Was muss man dafür können? | |
Humor ist dabei fast die wichtigste Kunstform der Verständigung. Man muss | |
die anderen piesacken, während man gleichzeitig bereit ist, immer über sich | |
selbst zu lachen. So klappt das gut. Allerdings muss ich auch sagen: | |
Diejenigen, die mich richtig schlimm finden, würden wahrscheinlich gar | |
nicht mit mir reden, sodass ich es auch nicht mitkriege. Manche anderen | |
sagen aber auch explizit, dass sie es gut finden, wenn ich in meinen | |
Büchern über Brandenburg schreibe und versuche, auf bestimmte Probleme | |
hinzuweisen. | |
Auf der politischen Agenda kommen diese Leute aber gar nicht vor, außer | |
eben in Klischees als »die hart arbeitende Bevölkerung«. Diejenigen, die | |
»morgens früh aufstehen«, bla bla bla. Aber in der paternalistischen | |
Scholz-Optik sind sie keine politischen Subjekte – oder? | |
»Vorkommen« ist übrigens auch so ein Wort, immer muss irgendjemand irgendwo | |
vorkommen. Andere Synonyme dafür sind »gesehen werden«, »gehört werden«, | |
»abgeholt« und auch noch »mitgenommen werden«. In all diesen Begriffen | |
steckt Eltern-Kind. Es klingt, als müsste man sich um irgendwelche | |
infantilen Nicht-Checker kümmern, weil die sonst verloren gehen, wenn man | |
sie nicht »mitnimmt«. Mit Ihrem Begriff »vorkommen« ist es so ähnlich. | |
Dieses Paternalistische ist eine Art Top-down-Verständnis von Politik. | |
Motto: Der Wähler ist eigentlich ein infantiler Konsument. Er hat eine Art | |
Wahlfreiheit. Man bietet ihm Sachen an, und dann kann er den Daumen hoch | |
oder runter machen. | |
Diese konsumistische Wahlfreiheit wird aber zusehends durch eine veränderte | |
Weltlage bedroht? | |
Seit wir Dauerkrise haben, gibt es statt Wahlfreiheit lauter angebliche | |
Alternativlosigkeiten. Das heißt, der Weg steht dann mehr oder weniger | |
schon fest. Politik wird dabei zu einer Form von Pädagogik, die diesen Weg | |
den Leuten nahebringen soll. Deshalb wird dann ständig etwas vermittelt, | |
erklärt, beworben und »auf Augenhöhe« rübergebracht. Das ist eigentlich | |
nicht die Uridee von Demokratie. | |
Sondern? | |
Die Uridee ist, dass politische Anliegen von unten nach oben wandern. Sie | |
kommen aus dem Volk und werden von den Repräsentanten aufgegriffen. Das | |
steht auch so in der Verfassung. So könnte man Ihren Begriff des | |
»Nicht-Vorkommens« deuten: als ein Nicht-Ernst-Nehmen der Leute in dem, was | |
sie eigentlich sind. Nämlich der verdammte Souverän. | |
Das ist eine Ressourcenverschwendung des Demokratischen. | |
Erstens ist es eine Ressourcenverschwendung. Zweitens kommt dieses | |
Politiker-Denken bei vielen Leuten nicht gut an. Neulich habe ich in einem | |
Spielfilm einen Politikberater einen interessanten Satz sagen hören. Er | |
meinte: Wenn du geliebt werden willst, darfst du den Menschen nicht deine | |
Hilfe anbieten. Du musst sie vielmehr um Hilfe bitten. Wer immer Hilfe | |
anbietet, wird gehasst. | |
Ist das so? | |
Kam mir auch erst mal kontraintuitiv vor. Aber auf den zweiten Blick wird | |
klar: Wer Hilfe anbietet, ist der Bessere, Stärkere, Mächtigere. Er | |
behandelt den anderen als schwach. Es will aber niemand als schwach | |
behandelt werden. In Politik übersetzt würde das bedeuten: Nicht immer nur | |
Doppel-Wumms machen, sondern die Bürger auch mal um was bitten. Zum | |
Beispiel: Bitte arbeitet weiterhin hart, zahlt weiterhin in die Rentenkasse | |
ein, bleibt bitte möglichst friedlich und seid nicht allzu sauer, dass wir | |
in einer absurden Bürokratiefalle stecken und euch dauernd mit | |
irgendwelchen Belästigungen auf den Nerv gehen. – Mal als Grundidee, die | |
hinter der Ansprache steht. | |
So ein Appell würde Ihnen sofort als »neoliberal« ausgelegt, auch so ein | |
Stumpfwort, und widerspricht der soziologischen Beobachtung der | |
Missachtung, dass Leute, speziell manche im Osten, das Gefühl haben: »Die | |
da oben« sehen uns nicht, hören uns nicht, kümmern sich nicht um uns. | |
Nichts gegen soziologische Beobachtungen, aber ich bin nicht sicher, ob das | |
stimmt. Ich bin ja im Osten und ich bin auf dem Land, und ich rede wirklich | |
viel mit den Leuten, auch darüber, warum sie politisch so unzufrieden sind, | |
warum sie AfD wählen. | |
Und? | |
Der Sound ist eher: Dann lasst uns doch wenigstens in Ruhe. Wir erwarten | |
uns eigentlich nicht so viel vom Staat, und wir sind auch daran gewöhnt, | |
uns allein durchzuwursteln. Wenn reelle Interessenvertretung der | |
klassischen, vielleicht auch sozialdemokratischen Art kaum stattfindet, | |
also nicht ständiges Bequatschen und Betüddeln und Betreuen, sondern das | |
Ermöglichen von grundlegender Daseinsvorsorge für alle, zum Beispiel | |
Existenzminimum auch für Rentner, bezahlbarer Wohnraum, funktionierende | |
Schulen, öffentlicher Transport und erreichbare Gesundheitsversorgung, wenn | |
das also ins Hintertreffen gerät, sagen die Leute: Dann geht uns wenigstens | |
nicht auch noch auf die Nerven mit irgendwelchen Vorschriften, Eingriffen, | |
Ideen zu unserer Lebensführung. In dieser Stimmungslage wird dann alles als | |
Zumutung empfunden. Von der Corona-Maßnahme über das Heizungsgesetz bis zum | |
Gendern. Irgendwie so würde ich das Gefühl beschreiben. | |
Das Flüchtlingsheim nicht zu vergessen. | |
Genau. Man könnte auch noch Windräder nennen. So eine typische Aussage wäre | |
dann: Die Schulen kriegt ihr nicht renoviert, aber Flüchtlingsunterkünfte | |
und Windräder bauen, das schafft ihr. | |
Wenn die Verhältnisse verwirrender werden, dann ist es ja immer eine Frage, | |
welche Quellen für Stabilität oder auch Identität stehen einem zur | |
Verfügung? Und da stehen gefühlten »Weltbürgern«, also unsereins, mehr | |
Quellen zur Verfügung als anderen. | |
Das Gefühl von verwirrten Verhältnissen ist vermutlich schlicht und | |
ergreifend die Rückseite der Globalisierung. Bei Tageslicht betrachtet: | |
Wann waren die Weltangelegenheiten denn irgendwann einmal nicht verwirrt? | |
Wann war es so schön ordentlich und ruhig und übersichtlich, wie heute alle | |
glauben, wenn sie im Rückblick die Vergangenheit romantisieren? | |
Offenbar eine rhetorische Frage. | |
Der entscheidende Unterschied besteht vermutlich darin, dass die Nation als | |
Identifikationsfigur weggefallen ist. Nationen haben heute politisch eine | |
kleinere Wirkungsmacht als früher, nicht mehr so große Gestaltungsräume, | |
weil wir immer stärker international voneinander abhängig sind. Das heißt, | |
die Behauptung von geordneten nationalen Räumen ist weggefallen, und auf | |
einmal reden alle von Orientierungslosigkeit und Verwirrung und | |
komplizierten Zeiten. Vielleicht liegt darin auch die Erklärung für die | |
neue Sehnsucht nach Gruppenidentitäten. Man findet dann Zugehörigkeit in | |
den Kategorien von ethnischer Herkunft, geschlechtlicher Ausrichtung, | |
Alterskohorte und all dem, was wir Identitätspolitik nennen. Oder eben in | |
politischen Lagern. | |
Die Dialoge aus Ihrem letzten Buch zwischen dem Arschloch-Journalisten und | |
der aufrechten Bäuerin zeigen, wie einst ähnlich tickende Leute sich mit | |
belehrendem, vorwurfsgetriebenem Sprechen immer weiter polarisieren. Er | |
denkt, er beschäftige sich mit den »Existenzfragen der Epoche«, sie denkt: | |
»Ihr redet vor allem über euch selbst«. | |
Wir haben im Kleinen versucht, solche Dynamiken zu zeigen und dabei nah am | |
eigenen Erleben zu bleiben. Zu zeigen, wie sich diese Formen von Rhetorik | |
automatisch zu eskalativen Situationen entwickeln, obwohl man letztlich in | |
dem, worum man streitet, vielleicht gar nicht so unterschiedlicher Meinung | |
ist. Das ist ja das Absurde bei dieser viel beschworenen »Polarisierung«. | |
Natürlich gibt es immer Leute, die etwas ganz anderes wollen, aber bei | |
vielen, die sich da streiten, habe ich das Gefühl: Leute, ihr liegt in | |
Wahrheit doch echt ziemlich nah beieinander, was die Sache betrifft. Aber | |
auf rhetorischer und emotionaler Ebene polarisiert es. Das hat etwas | |
Tragisches. | |
Wenn die Tendenz so ist, dass sich solche Sprachlosigkeiten und/oder | |
Ignoranzen verstetigen und vertiefen, wie kommt man denn da raus? | |
Wie immer kann man bei solchen großen Fragen leider keine Hebel bedienen | |
oder Schrauben drehen, und dann ist alles gut. | |
Wir sind ein Magazin für Lösungen. | |
Vermutlich muss man bei sich selbst anfangen. Indem man quasi mit dem | |
Kant‘schen Imperativ rangeht und sagt: Ich versuche es so zu machen, wie es | |
gut wäre, wenn es alle täten. | |
Konkret? | |
Erstens: Wichtige politische Fragen nicht auf schnelllebigen | |
Kommunikationsmedien verhandeln. Also keine politische Auseinandersetzung | |
auf X, in WhatsApp-Gruppen oder Kommentarspalten. Weil Wichtiges meistens | |
auch komplex ist und nicht mit kleinen Punchlines abgefrühstückt werden | |
kann. Wenn man es doch tut, führt das immer zu Aggression bei denen, die es | |
lesen. Kann man einfach bleiben lassen, dieses Verhalten. Und zweitens: | |
Möglichst kein Wir-und-die-Denken zulassen. | |
Das gehört zum Menschen. | |
Möglich. Aber in den letzten Jahren ist es immer doller geworden, dass man | |
sich in irgendwelchen Gruppen oder Lagern einsortiert, um sich mit | |
Freund-Feind-Denken eine Art von Ordnung zu schaffen. Dadurch passiert es | |
dann aber, dass man reflexhaft auf Personen reagiert, die man der falschen | |
Seite zuzählt. Und dann ist man immer tendenziell aggressiv, wenn die etwas | |
sagen. Und man ist sofort bereit zu glauben, dass das nicht stimmt und dass | |
die anderen dumm sind. Es ist gut, so etwas bei sich selbst zu bemerken und | |
dann dagegen anzugehen. Je mehr Menschen beim öffentlichen Sprechen ganz | |
bewusst dieses Wir-und-die-Ding vermeiden, desto mehr kann sich die | |
Stimmung wieder zum Besseren drehen. | |
Einer, der es wirklich versucht, ist sicherlich Robert Habeck. Gleichwohl | |
oder vielleicht sogar deswegen ist er für manche ein Feindbild geworden. | |
Wenn die kommunikative Kultur von Feindseligkeit geprägt ist, dann sind | |
die, die es anders machen, automatisch Feinde. Genauso wie man es nicht | |
ertragen kann, dass irgendjemand Lastenfahrrad fährt. | |
Dass Robert Habeck zum Feindbild geworden ist, habe ich gar nicht so | |
mitgekriegt. | |
Frau Zeh, Sie leben auf dem Land, aber doch nicht auf dem Mond. | |
In meinem Umfeld vor Ort gelten die Grünen insgesamt als ganz unmögliche | |
Partei, was sehr schade ist, aber es hat sich leider so entwickelt. Robert | |
Habeck gilt aber als derjenige, der noch der Beste von denen ist. Das zeigt | |
doch, dass er tendenziell ein positives Beispiel für politische | |
Kommunikation ist. Vom politischen Gegner respektiert werden, ist doch | |
ehrenvoller als Beifall in den eigenen Reihen. | |
Lassen Sie uns ein paar Worte und Phrasen auf Bullshit-Verdacht testen. Wer | |
ist eigentlich dieser ständig erwähnte »kleine Mann« – und warum gibt es | |
eigentlich keine »kleine Frau«? | |
Na, weil die Frauen sowieso immer klein waren. Das braucht man dann nicht | |
extra dazu sagen. | |
Ah, richtig, richtig. | |
Aber den »kleinen Mann« gibt es ja eigentlich auch nicht mehr, oder? | |
Doch, doch. »Der kleine Mann« ist groß im Kommen. Unsere Grundsatzfrage | |
ist, ob das einfach eine Worthülse ist oder ein Begriff, mit dem man eine | |
bestimmte Weltsicht erhalten oder durchsetzen will. | |
Der Begriff »kleiner Mann« scheint mir irgendwie altmodisch und außerdem | |
despektierlich und von oben herab, Stichwort politischer Paternalismus. | |
Aber andererseits bin ich ja auch ganz altmodisch Sozialdemokratin. Ich | |
halte soziale Gerechtigkeit für eine zwingende Voraussetzung des | |
gesellschaftlichen Friedens. Wenn wir also wieder mehr für die | |
Grundversorgung tun wollen, Schulsystem, Gesundheitssystem, gerechte | |
Bezahlung und so weiter, dann bin ich sehr für den »kleinen Mann«. Ich | |
würde aber doch eine neue Vokabel vorschlagen. | |
»Gesunder Menschenverstand«? Den proklamiert ja jeder immer gern für sich. | |
Aber was ist das überhaupt? | |
Den »gesunden Menschenverstand« hat man immer selbst und die anderen haben | |
ihn nicht. Genau wie »Vernunft«. Positiv gewendet würde ich gesunden | |
Menschenverstand als eine Art Pragmatismus definieren. Also Ideologieferne | |
beim Angang von Problemen. | |
Der Begriff wird auch gegen wissenschaftliche Erkenntnisse eingesetzt. | |
Ich finde es weder gesund noch verständlich, Fakten zu ignorieren. Wenn das | |
so gemeint wird, gehört der Begriff in die Tonne. | |
»Urbane Eliten«. Wir wohnen ja in Berlin, damit sind wir offenbar urbane | |
Elite. Sie dagegen sind ein Landei. | |
Wenn man sich Berlin mal im Ganzen anschaut, dann wird man sofort merken, | |
dass da nicht alle Elite sind. Urban taugt in Wahrheit nicht als | |
Beschreibungsmerkmal. Wir reden viel mehr über Zentrum und Peripherie. Sie | |
beide sind also Zentrumselite, und ich bin ein Peripherie-Ei. | |
»Schwäbische Hausfrau«? | |
Geht es da um Austerität und Sparsamkeit? | |
Ja. Die schwäbische Hausfrau ist sparsam und gibt nicht mehr aus, als sie | |
hat. Niemals macht sie Schulden. | |
Die Schuldenbremse ist sozusagen die schwäbische Hausfrau unter den | |
Finanzinstrumenten. | |
So ist es. | |
Dann wäre Christian Lindner also eine schwäbische Hausfrau? Das war mir | |
auch noch nicht klar. | |
Das ist es ihm selbst wohl auch nicht. | |
Dann steckt in dem Begriff wohl der schlimme Denkfehler, dass ein | |
Staatshaushalt eigentlich nur ein Privathaushalt in groß sei. Wenn es für | |
die Schwäbin vernünftig ist, nicht mehr Geld auszugeben, dann müsste das | |
für den Staat genauso sein. So gesehen ist der Begriff dann ein Aufkleber | |
auf einem unguten Irrtum. | |
Wir sind eindeutig in einem Wettbewerb um Begriffe, mit denen um | |
Deutungshoheit und Weltsicht gerungen wird. Unsere Unterstellung ist, dass | |
im Moment die Populisten das besser machen als wir. Wie sehen Sie das? | |
Vielleicht schließen Sie da nur aus dem Erfolg des Rechtspopulismus auf den | |
Erfolg seiner Begriffe zurück. Tragischerweise scheint es momentan fast | |
egal, was passiert und egal, wie man darüber redet und was man vorschlägt: | |
Am Ende nützt es vor allem den Populisten. Sonst wären diese Bewegungen ja | |
nicht unter total unterschiedlichen Bedingungen in verschiedenen Ländern | |
erfolgreich. | |
Warum jetzt eigentlich? | |
Das Gefühl von Unordnung als Rückseite der Globalisierung hatten wir schon | |
als Erklärung. Das ist wahrscheinlich auch wirklich der Hauptgrund für die | |
meisten politischen Bewegungen, die wir beobachten. Dazu kommt, dass | |
Elitenfeindlichkeit mittlerweile pandemisch geworden ist. Regierende | |
Politiker können gar nichts mehr richtig machen. So wie in einer | |
gescheiterten Ehe, wo einen wirklich alles nervt, was der andere tut, wo | |
man immer alles schlecht findet und dem anderen böse Motive unterstellt. | |
Blöderweise ist das ein Teufelskreis. Je mehr Erfolg die AfD hat, desto | |
abenteuerlicher müssen die Koalitionen werden, weil man sonst gar keine | |
Regierungsmehrheit mehr hinbekommt. Siehe Ampel. Man ist gefangen in so | |
einer sehr kontroversen Gruppe, die versucht, sich irgendwie | |
durchzulavieren. Das macht einen denkbar schlechten Eindruck, was | |
Rechtspopulisten dann wieder nutzen können, um zu sagen: Sehr ihr, die | |
kriegen ja nichts hin. Daraufhin kriegt die AfD dann noch mehr Wähler, und | |
es wird noch schwieriger, eine Koalition zu bilden. Dieser Teufelskreis | |
wird uns in den nächsten Jahren zu schaffen machen. Nach den Wahlen hier in | |
den ostdeutschen Landtagen und in den kommenden Jahren wird das ganz fatale | |
Folgen zeitigen. | |
Wie sieht es denn im Herbst aus bei Ihnen in Brandenburg? | |
Ja, schlecht. | |
Wie schlecht? | |
Man wird alles tun, um die AfD aus der Regierung herauszuhalten, das heißt, | |
Koalitionsbildung wird die Quadratur des Kreises und das Regieren hinterher | |
erst recht. Den Teufelskreis habe ich ja eben beschrieben. | |
Sie sind Juristin. AfD-Verbot – ist das auch nur so eine Phrase, mit der | |
wir uns so ein bisschen ablenken wie mit dem 1,5-Grad-Ziel? Oder ist das | |
juristisch ernsthaft durchzuziehen? | |
Die Forderung des AfD-Verbots ist einfach ein Ausdruck von Hilflosigkeit, | |
vielleicht auch der Verzweiflung. Man denkt sich: Ach, wie schön wäre es | |
doch, wenn man sie einfach verbieten könnte, und dann wären sie weg. Aber | |
selbst, wenn es möglich wäre, diese Partei zu verbieten, wären ja die | |
vielen Leute immer noch da, die die wählen. Deswegen bin ich nicht sicher, | |
ob das wirklich lohnt, darauf so viel diskursive Energie zu verschwenden. | |
Vielleicht wäre es doch besser, sich noch genauer anzuschauen, warum die | |
Leute diese Partei wirklich wählen. Sich das anzuhören und das zu | |
diskutieren und nicht nur sagen: Mit AfD-Wählern reden wir nicht. Ich weiß | |
nicht, ob die Antworten ausreichend sind, die wir bisher darauf haben. | |
Nicht ausreichend. Auch wenn man die Leute scheiße findet und sie | |
Demokratiefeinde sind, sind sie ja empirisch betrachtet politische | |
Wettbewerber. Dadurch entstehen ganz andere Handlungsnotwendigkeiten, als | |
nur zu sagen: Die müssen wir verbieten. Die sind ganz schlimm. | |
Es ist sehr leicht, alle scheiße zu finden und alle Demokratiefeinde zu | |
nennen. Sehr leicht, aber kein bisschen weiterführend. Womit wir wieder | |
beim Wir-und-die-Denken wären. Inzwischen muss man befürchten, als | |
verharmlosend zu gelten, wenn man daran erinnert, dass nicht alle, die | |
diese Partei wählen, tatsächlich Systemfeinde sind. Nicht mal alle | |
Mitglieder dieser Partei sind Systemfeinde. Ich glaube immer noch, dass das | |
zahlenmäßig keine Mehrheit, sondern eher eine kleine Minderheit ist in | |
Deutschland, die wirklich sagt: Ich wähle die AfD, weil ich die Demokratie | |
abgeschafft haben will. Da bin ich mir in den USA schon wesentlich | |
unsicherer, ob es da nicht inzwischen eine ziemlich große Gruppe ist, die | |
von Demokratie und Rechtsstaat wenig hält. Bei uns in Deutschland ist es | |
noch nicht so weit, und optimalerweise sollte es auch nicht so weit kommen. | |
Haben Sie eigentlich selbst ein Lieblings-Bullshit-Wort? | |
Ganz spontan würde ich »Polarisierung« sagen. Man verwendet das Wort die | |
ganze Zeit, ohne sich wirklich zu fragen, ob es zutrifft und was es | |
überhaupt meint. Und ich mag es vor allem deswegen nicht, weil ich glaube, | |
dass seine Benutzung die Lage einfach nicht besser macht. Solange der | |
Begriff durch das eigene Reden und Denken wabert, befördert man genau das, | |
was man eigentlich nicht haben möchte. Ich glaube, wir sollten eine Sache | |
anstreben. Jeder von uns. Sich einmal am Tag daran erinnern. Darüber | |
meditieren. | |
Was wäre das? | |
Trotz AfD und allem anderen, was uns nicht gefällt in unserem Land und auf | |
der ganzen Welt, ist die Gesellschaft, in der wir leben und die wir in Form | |
einer Demokratie verwalten, unsere gemeinsame Angelegenheit. Alles Gute und | |
alles Schlechte gehört dazu. Es geht nicht darum, eine sortenreine | |
Meinungsgruppe herzustellen. Oder sich eine heile Welt zu wünschen, in der | |
nur nette Menschen zusammenleben. Sondern darum, den gemischten Haufen, den | |
man hat, möglichst verträglich zu organisieren. Weder kann man sich selbst | |
da eskapistisch herausnehmen noch kann man sagen, alles, was mir nicht | |
passt, gehört auch nicht dazu. Oder? | |
Dieser Beitrag ist in unserem Magazin taz FUTURZWEI N°28 erschienen. Lesen | |
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12 Mar 2024 | |
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## AUTOREN | |
Peter Unfried | |
Harald Welzer | |
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