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# taz.de -- Krise der linken Bewegung: Bitte weiterdenken!
> Hören wir auf, Plastikwörter zu gebrauchen. Fünf Euro ins Schweinderl,
> wer »Klimakrise«, »Respekt«, »das geht ja gar nicht« oder
> »Technologieoffenheit« sagt. Hören wir auf damit, uns dümmer zu machen
> als unbedingt nötig. Denken wir weiter.
Bild: Wir müssen aufhören, in unserem Denken und Handeln genügsam zu sein, f…
[1][taz FUTURZWEI] | Seit vielen Jahren frage ich mich, was »links« ist.
Gerade hat mich der Cicero als »ausgesprochen linken Sozialpsychologen«
bezeichnet, sodass »links« offenbar wenigstens noch als Zuschreibung von
der rechten Seite her funktioniert.
Aber seit »links« einerseits in theoretisch halbseidenem
Postkolonial-critical-whiteness-identitätspolitischem-kulturelle-Aneignung-
und-so-weiter-Jargon besteht und andererseits durch das Hilfswort
»progressiv« ersetzt ist, kann ich mich damit nicht mehr identifizieren.
Besser als die Linken selbst wissen ja ohnehin die Rechten, was »links«
ist, nämlich irgendwie diese mit nicht nachlassendem Sucheifer allerorten
aufgefundenen »links-grün-urbanen« SpießerInnen, die zur persönlichen
Kränkung von Ulf Poschardt Lastenräder besitzen.
Ach, Leute: »Links« war mal das, was sowohl praktisch als auch theoretisch
immer einen materialistischen Ausgangspunkt hatte, weshalb es bei »links«
um soziale Gerechtigkeit ging, um den Kampf darum und seine Funktion als
historische Produktivkraft. Man könnte auch sagen: »Links« war immer der
Kampf um Gleichheit, Wokeness ist dagegen der um Ungleichheit. Übrigens ist
der Kampf um Gleichheit und Gerechtigkeit nicht erklärungsbedürftig – den
verstehen alle, inklusive seiner Gegner. Weil es eben um Materielles geht,
um die Existenzlage und die mit ihr verbundenen Chancen auf ein gutes
Leben. Während das meiste im heutigen sogenannten linken Spektrum
Insiderthemen für Menschen sind, die hauptsächlich auf Kämpfe um das
Symbolische fixiert sind, weil die kostenlos sind und weder Anstrengung
kosten noch Karrierechancen verbauen, aber dafür Distinktionsgewinne
erlauben.
## Todesclowns des Zivilisationsprozesses
Die Ersetzung sozialer Kämpfe durch symbolische findet im Rahmen eines
historischen Zeitraums statt, der durch Deregulierung der Märkte,
Vermarktlichung aller gesellschaftlichen Bereiche einschließlich
Wissenschaft, Kultur und Biosphäre sowie der Magisierung von Wachstum und
Individualisierung gekennzeichnet war und ist. Der vorläufige Gipfel dieses
Prozesses ist die libertäre Menschenfeindlichkeit vom Typ Peter Thiel, Elon
Musk und anderer Todesclowns des Zivilisationsprozesses, für die es ein
Gemeinwohl noch nicht einmal rhetorisch mehr gibt. Ob es danach noch
schlimmer geht, weiß niemand. Vom Spätkapitalismus, den soziologische
Kollegen schon seit Jahrzehnten fantasieren, habe ich jedenfalls noch nix
gesehen: Mir scheint der Kapitalismus eher zeitlos geworden und sich in
seinen Ausbeutungs- und Vernutzungsstrategien desto mehr zu radikalisieren,
je mehr Zerstörung an der Natur er schon angerichtet hat.
Möglicherweise schafft er sich nur ganz am Ende selbst ab, der
Kapitalismus, weil sein globaler Siegeszug solche Zerstörungswirkungen auf
die gegenwärtigen und künftigen Lebensbedingungen hat, dass der
Marktwirtschaft zunehmend das Problem entsteht, dass die Kosten für die
Bewältigung der angerichteten Schäden die durch die Zerstörung möglichen
Gewinne übersteigt. Aber das kann man noch eine Weile weitermachen, die
Sozialisierung der Kosten bei Privatisierung der Gewinne ist ja gut
eingeübt. Und die Klimaökonomie schon eifrig dabei, den nächsten Beelzebub
marktgängig zu machen – die »Entnahmewirtschaft«, die – federführend am
Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung – supersmarte Techniken der
CO2-Entfernung aus der Atmosphäre mit noch smarteren Regulierungen
erfindet. Womit wieder einmal bewiesen wäre, dass es nichts gibt, was im
Kapitalismus nicht in Geld verwandelt werden könnte.
## Die Ersetzung des Politischen durch Haltung
Aber zurück zu dem interessanten Phänomen, dass die Transformation sozialer
Kämpfe in symbolische genau mit dem Prozess der Neoliberalisierung der Welt
zusammenfällt. Da passt dann plötzlich wieder alles zusammen und findet
seine friedliche Koexistenz im Universum der Bullshit-Wörter, die vom
Quatsch der »hart arbeitenden Bevölkerung« über den »internationalen
Wettbewerb« bis zur »Augenhöhe« reichen, vom »Menschen mitnehmen« bis zu
»da bin ich ganz bei dir!« Tatsächlich übernimmt der inflationäre Wortmül…
der aus BWL-Sprech, Therapiejargon und Gleichgültigkeit gegenüber aller
Ungerechtigkeit wie von ChatGPT zusammengequirlt scheint, die Funktion der
allgemeinen Entpolitisierung oder anders gesagt: die Ersetzung des
Politischen durch – Haltung.
Man kann ja voll gegen die Eskalation des Klimawandels sein, ohne auch nur
einen Furz dagegen zu tun – und an dieser Stelle merkt
Futurzwei-Chefredakteur Peter Unfried an: »Da sind wir beide die besten
Beispiele!« Guter Punkt: Denn die Substitution von Eingreifen und Handeln
durch virtuoses Jonglieren mit halbgaren Begriffen und »das geht ja gar
nicht« bedienen wir natürlich auch gern, ohne uns über die faktische
Folgenlosigkeit unserer hübschen Anstrengungen Rechenschaft abzulegen.
Dieter Hildebrandt hat das mal so formuliert: Kein einziges Atomkraftwerk
in Deutschland sei ohne seinen entschiedenen Widerstand ans Netz gegangen!
Tja, und keine Verschärfung der Flüchtlingspolitik und kein Waffenexport
nach Saudi-Arabien wird ohne Zerknirschung des grünen Koalitionspartners
durchgewunken. Und kein Zynismus der Abschottung Europas gegen die
neuerdings »Irreguläre« genannten Menschen ohne die Betonung der echten
Humanität, die man natürlich sichern wolle – gleichlautend bei CDU/CSU, SPD
und FDP. Solche Anstrengung des Begriffs, müsste der Kanzler als Meister
der Phrase anmerken, ist »sehr, sehr historisch« – nämlich die
Kunstfertigkeit, jegliche Schweinerei mitzumachen, dabei aber stets
moralisch zu bleiben.
Haltung ist genauso wie Moral eine Kategorie der Vergemeinschaftung, sie
gestattet, unbelastet von früher formulierten Ansprüchen durchzukommen und
seine Überzeugungen damit zu synchronisieren, was gerade in der Eigengruppe
Konjunktur hat. Haltung kann man schon haben, bevor man auch nur das
Geringste verstanden hat, Haltung suspendiert von der Anstrengung, sich mit
Argumenten zu befassen, die von jemandem kommen, den man schon aus Gründen
der Haltung ablehnen muss. Und vor allem: Haltung kann man heute in Bezug
auf dieses und morgen auf sein Gegenteil haben, vorausgesetzt, sie ist in
der Eigengruppe mehrheitsfähig. Das ist der Zeitgeist von »links« bis
»rechts« und wieder zurück.
## Wir haben uns das Weiterdenken abgewöhnt
Dabei kann man immer wieder die Frage stellen, über wen man denn eigentlich
spricht, wenn man solche Beobachtungen anstellt. Wie die äußerst
überraschende Welle der Demonstrationen gegen die AfD und andere
Rechtsextreme seit Januar dieses Jahres zeigt, sind offenbar noch Millionen
»ganz normaler« Bürgerinnen und Bürger in der Bundesrepublik in der Lage zu
unterscheiden, bis wann die private Ruhe genügt und ab wann man auf die
Straße gehen muss, um ganz praktisch für die Demokratie einzustehen.
Natürlich finden das dann die politischen Akteure dufte, weil andere die
Verantwortung zeigen, die sie selbst seit Jahren in Bezug auf die
faschistischen Bestrebungen im Land vermissen lassen. Vielleicht spricht
sich jetzt doch auch mal in der politischen Klasse herum, dass eine
aufgeklärte und engagementbereite Mehrheitsbevölkerung die stärkste
Ressource ist, auf die eine Demokratie bauen kann. Und vielleicht können
auch wir, die sogenannten Deutungseliten aus Wissenschaft und
Qualitätsmedien, mal wieder das Unterscheidungsvermögen trainieren, das man
braucht, um intellektuell nicht in den eingeübten Schlaumeier-Routinen zu
verwesen. Und selbst wieder den Mut zur Anstrengung fassen, von
seinesgleichen doof gefunden zu werden. So verstehe ich Unfried, und
wahrscheinlich hat er recht.
Wir haben uns das Weiterdenken abgewöhnt. Uns fehlen die Begriffe zur
Beschreibung jener Verhältnisse, in denen unter Bedingungen der Folgen der
Erderhitzung und des Artensterbens sich die sozialen Beziehungen so
verschärfen, dass autoritäre und totalitäre Politikangebote mehrheitsfähig
werden. Das war übrigens schon die Kernaussage der Grenzen des Wachstums –
und so wenig sich die Wirtschaftswissenschaften um die Entwicklung einer
Ökonomie der Endlichkeit bemüht haben, so wenig haben sich die
Sozialwissenschaften um eine Gesellschaftstheorie der Endlichkeit
gekümmert. Deshalb haben alle, die weiterdenken wollen, immer nur diese
Post-Begriffe: postfossil, Postwachstum, postkolonialistisch,
postkapitalistisch – nichts könnte die Theorielosigkeit der Gegenwart
besser illustrieren als diese begrifflich gewordenen Hilflosigkeiten des
Denkens.
Die entstehen dann, wenn man es vorzieht, in seinem Denken und Handeln
genügsam zu sein – sich also nur so weit in Anspruch zu nehmen, wie es
reicht, um bequem mit seinesgleichen durchzukommen. Aber hilft ja nix: In
dieser Genügsamkeit wird die Welt nur verschieden interpretiert, und das
meistens auch noch ziemlich schlecht. Es kommt aber darauf an, sie zu
verändern.
Harald Welzer ist Herausgeber von taz FUTURZWEI.
Dieser Beitrag ist in unserem Magazin taz FUTURZWEI N°28 erschienen. Lesen
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5 Mar 2024
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## AUTOREN
Harald Welzer
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