# taz.de -- Kaum Selbstzeugnisse von Betroffenen | |
> Das Forschungsprojekt „Zwischen Fürsorge und Zwang“ beschäftigt sich mit | |
> der frühen Psychiatriegeschichte der Region Oldenburg zwischen | |
> Dorfgemeinschaft und „Anstalt“ | |
Von Frank Keil | |
„Melancholie“ ist mit einem schwarzen Balken markiert, für „Verrückthei… | |
wurde Rot gewählt, bei „secundärer Blödsinn“ entschied man sich für Gel… | |
1846 lässt Ludwig Kelp, der spätere Gründungsdirektor der „Irrenheilanstalt | |
zu Wehnen“ im damaligen Herzogtum Oldenburg, eine Landkarte erstellen. | |
„Man hatte alle Ämter und Kirchspiele angeschrieben und nach Menschen mit | |
sogenannten Geisteskrankheiten gefragt“, erzählt die Historikerin Christine | |
Vogel von der Universität Vechta, schaut auf das erhaltene Dokument: Es ist | |
eine Art Statistik in Form einer Landkarte. Denn um eine Klinik zu gründen | |
und Geld zu besorgen, um sowohl den Herzog als auch das städtische | |
Bürgertum zu überzeugen, brauchte es auch damals Zahlen. | |
„Der spätere Anstaltsdirektor Kelp hat mit Blick auf diese Karte darauf | |
verwiesen, das es im Herzogtum Oldenburg mehr Geisteskranke gebe als im | |
Königreich Hannover oder in Preußen – was daran liege, dass es in Oldenburg | |
keine Heilanstalt gebe, und das sollte man ändern“, so Vogel. Zwölf Jahre | |
später wurde Wehnen eröffnet. | |
„Zwischen Fürsorge und Zwang“ nennt sich das Forschungsprojekt, das die | |
Historikerin leitet und das auch digitalisierte Quellen zur Verfügung | |
stellen wird. Es begann 2023 und soll 2026 abgeschlossen sein. Zur | |
Finanzierung stehen 250.000 Euro zur Verfügung; das Niedersächsische | |
Landesarchiv ist Kooperationspartner. Die Forschung reicht zurück bis in | |
die Frühgeschichte der Psychiatrie. | |
Der Fundus, auf den ihr Team zurückgreifen kann, umfasst den gesamten | |
Aktenbestand zu und von Wehnen sowie den Bestand der benachbarten | |
„Verwahranstalt“ Kloster Blankenburg. Dazu kommen Konvolute der einstigen | |
Oldenburger Medizinal- und Sittenpolizei, der Armenfürsorge und der lokalen | |
Gerichtsbarkeit. Dazu 13.000 PatientInnenakten, die teils bis in unsere | |
Zeit reichen. | |
Doch bevor es in das Wechselspiel zwischen dem Wirken der Institutionen und | |
den Lebensläufen der Betroffenen gehe, müsse man auf die eigene Perspektive | |
blicken: „Denkt man an Psychiatriegeschichte, denkt man zu Recht zuerst an | |
das 20. Jahrhundert, da wir hier den Verbrechen der Nazizeit begegnen“, | |
sagt Vogel. „Und später greift ab den 1970ern die Bewegung der | |
Psychiatriekritik und die Idee der Inklusion.“ | |
Die Vorgeschichte sei weit weniger bekannt und geprägt durch oft pauschale | |
Vorstellungen: Man denke an die „Irrentürme“, wo Menschen angekettet und | |
sich selbst überlassen wurden, man denke an die Dorfgemeinschaft, wo die | |
Erkrankten ganz normal in ihren Familien gelebt hätten – und dann seien | |
fatalerweise die Institutionen gekommen und hätten eingegriffen. | |
Das sei ambivalent: „Wir haben in den Akten Fälle gefunden, wo man sagen | |
kann: Ja, es gab Menschen mit Beeinträchtigungen, die gut im Alltag | |
mitliefen, weil sie weder sich noch andere gefährdet haben. Das ist nur | |
nicht so gut dokumentiert, denn dokumentiert wird etwas erst, wenn Probleme | |
auftauchen“, erzählt Vogel. „Aber es gab immer auch Krankheitsbilder, die | |
ein Zusammenleben unmöglich gemacht haben. Was macht man dann als Familie, | |
als Dorfgemeinschaft?“ Dann sei die Unterbringung in einer Anstalt wie in | |
Wehnen für die Angehörigen eine Erleichterung gewesen. Patientenakten | |
offenbarten allerdings, „dass oftmals Zwangsmittel eingesetzt wurden, die | |
mit unserem heutigen Verständnis, wie man mit Menschen umgeht, nicht zu | |
vereinbaren sind“. | |
Auch Gründungsdirektor Kelp sei schwer zu fassen: „Er war einerseits ein | |
Reformer, ein engagierter Verfechter der Psychiatrie als neue Wissenschaft | |
innerhalb der Medizin, der aber zugleich seine genauen und | |
obrigkeitshörigen Vorstellungen hatte, was eine ordentliche Gesellschaft | |
sei und wie sich die Menschen in ihr zu verhalten haben.“ | |
Ein weiteres Forschungsfeld sei die Sicht der Betroffenen, auch wenn es | |
selten unmittelbare Selbstzeugnisse gebe. Aber es gebe Protokolle, in denen | |
zum Teil wörtlich ihre Wahrnehmungen ihrer Erkrankung dokumentiert seien. | |
„Und es gibt Briefe von den Insassen selbst, adressiert an den | |
Anstaltsdirektor, aus denen man viel herauslesen kann, weil die Menschen | |
genau wissen: Ich schreibe jetzt demjenigen, der darüber entscheidet, ob | |
ich noch länger hierbleiben muss.“ | |
Aussagekräftig seien auch Briefe von Angehörigen. So habe sie in einer Akte | |
den Zettel eines Mannes gefunden, der sein Anliegen quasi mündlich | |
formulierte: „Gebt mir meine Frau zurück, ich kann ohne sie nicht leben, | |
wie soll ich meinen Haushalt führen, es ist alles nicht so schlimm und ich | |
bitte Hochwohlgeborenes Amt, dass es mir meine Frau wiedergibt.“ In diese | |
Welten wird man nach und nach eintauchen können: „Wir stellen uns | |
verschiedene Einstiege vor: von digitalisierten Originaldokumenten für die | |
wissenschaftliche Community bis zu einer editierten Quellenauswahl, die man | |
etwa im Schulunterricht einsetzen könnte.“ | |
Und nicht zuletzt will das Projekt auch die eigene Arbeit spiegeln: „Gerade | |
in einer Zeit, wo die Menschen oft nicht mehr wissen, wo Wissen herkommt, | |
ist es wichtig zu erfahren, wie mühsam es ist, aus der lückenhaften | |
Archivüberlieferung überhaupt etwas herauszufinden“, sagt Vogel. Daher | |
müsse man auch bei der Landkarte von Gründungsdirektor Kelp schauen: „Wie | |
ist sie zustande gekommen, und wie wurde sie verwendet?“ Und auch: Wer von | |
den damals im Oldenburger Land Lebenden hat sie überhaupt gesehen? | |
19 Feb 2024 | |
## AUTOREN | |
Frank Keil | |
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