# taz.de -- Nachwahl in Großbritannien: Die Kandidatin lächelt und schweigt | |
> Bei dieser parlamentarischen Nachwahl dürften die britischen Tories | |
> verlieren: Neben Labour hegt eine rechte Partei Hoffnungen in | |
> Wellingborough. | |
Bild: Gen Kitchen darf der taz nichts sagen | |
WELLINGBOROUGH taz | Fast zwanzig Jahre lang saß Peter Bone für die | |
unscheinbare englische Kleinstadt Wellingborough, eine gute Stunde mit der | |
Bahn nördlich von London nahe Northampton gelegen, im britischen Unterhaus. | |
Von 2005 bis Ende 2023 vertrat der Tory mit Vehemenz den Brexit, stimmte | |
gegen die gleichgeschlechtliche Ehe, forderte eine Herabsetzung des | |
Abtreibungsalters und die Wiedereinführung der Todesstrafe. | |
Doch dann wurden ihm die Anschuldigungen eines Mitarbeiters zum Verhängnis. | |
Dieser behauptete, dass Bone sich 2013 ihm gegenüber entblößt und zu einer | |
Massage gedrängt und ihn danach gemobbt habe. Bone stritt alles ab, die | |
Polizei stellte das Verfahren ein, doch das Parlament suspendierte ihn für | |
sechs Wochen. Ein damit ermöglichtes Volksbegehren in seinem Wahlkreis zu | |
einer Neuwahl besiegelte Bones parlamentarische Zukunft. | |
Die Konservativen scheinen wenig Hoffnung zu hegen, den [1][Wahlkreis | |
Wellingborough bei der Nachwahl am 15. Februar] halten zu können. Ihre | |
Kandidatin Helen Harrison, eine Kreisrätin, ist Peter Bones | |
Lebensgefährtin. Sie meidet die britischen Medien. Ihr Wahlkreisbüro sieht | |
verlassen aus: Dreckige Fenster, davor ein mit Müllsäcken gefüllter und mit | |
Vogelkot übersäter Wagen mit platten Reifen, einer Radkralle und einer | |
Abschleppwarnung auf der Windschutzscheibe. Gleicht dieser Anblick dem | |
Zustand der Konservativen? | |
Harrisons Flugblätter heben hervor, dass sie genauso rechts sei wie ihr | |
Vorgänger, etwa als Mitgründerin der Brexit-Kampagne „[2][Grassroots Out]“ | |
von Nigel Farage. Die einstige Labour-Abgeordnete Kate Hoey, die zu | |
„Grassroots Out“ zählte, verrät der taz, dass eher Peter Bone selbst | |
Mitgründer war. Die Halbwahrheit soll Harrison politische Glaubwürdigkeit | |
schenken, außerdem sei sie als Physiotherapeutin die richtige Kandidatin | |
für Verbesserungen im örtlichen Gesundheitssystem. | |
## Es könnte knapp werden, sagt Labour | |
Für Labour soll die 28-jährige [3][Gen Kitchen] den Wahlkreis holen. Bei | |
den Wahlen 2019 holten die Konservativen noch 62 Prozent der Stimmen, gegen | |
26 Prozent für Labour. Das Labour-Wahlkampfbüro ist voll mit jungen und | |
alten Parteihelfer:innen, einige hämmern an ihren Laptops, andere | |
diskutieren, wer heute wo hinmuss. Ängstlich genehmigt man der taz ein | |
Foto, aber kein Fragerecht. Kitchen lächelt und flüchtet kommentarlos | |
weiter. Man sei zuversichtlich, doch es könne knapp werden – das ist alles, | |
was die Pressesprecherin der taz gibt. | |
In den an Wähler:innen verteilten Infos wird erzählt, dass Gen Kitchen | |
für schwerkranke Kinder gearbeitet habe. Gemeint ist eine Tätigkeit als | |
Spendensammlerin. Außerdem steht da, dass ihre Eltern beim Militär dienten. | |
Soll das rechten Wähler:innen imponieren? Labours Themen sind jedoch die | |
richtigen. Es geht um den Niedergang der Innenstadt, Messerverbrechen, das | |
kaputte Gesundheitssystem, verfallende Straßen. | |
In der Fußgängerzone, wo es schon lange keinen Wochenmarkt mehr gibt, hat | |
sich am frühen Vormittag die Partei „[4][Reform UK]“ breitgemacht, die | |
jüngste Parteigründung des Rechtspopulisten Nigel Farage. Die türkisen | |
Banner des Standes erinnern an ihre Vorgängerpartei, die Brexit Party, die | |
vor fünf Jahren die letzten britischen Europawahlen gewann. Reform UK will | |
jetzt auch wieder Labour und den Tories Dampf machen, in landesweiten | |
Umfragen steigen ihre Werte am deutlichsten und sie haben die | |
Liberaldemokraten als dritte Kraft in den Umfragen überholt. | |
## „Unsere Geschichte, unsere Kultur“: die rechte Reform UK | |
Die freiwilligen Parteihelfer:innen von Reform UK sind größtenteils im | |
Rentenalter. Der 72-jährige ehemalige Taxifahrer Tim Parry gibt an, bereits | |
seit den Jahren von Ukip (United Kingdom Independence Party), Vorläufer der | |
Brexit Party, dabeizusein. Reform UK kandidiert hier mit ihrem | |
Co-Parteichef [5][Ben Habib], ein in Pakistan geborener, in England | |
privatgeschulter und in Cambridge diplomierter Finanzexperte, der 2019 für | |
die Brexit Party kurz ins EU-Parlament gekommen war. In seinem | |
Wahlkampfmaterial lobt Habib, dass wegen des Brexits britische | |
Arbeiter:innen nicht mehr durch „ungezügelte Einwanderung“ unterboten | |
werden können. Im gleichen Flyer gibt es Ähnliches von Nigel Farage zu | |
lesen, während Parteichef Richard Tice „Woke-Blödsinn“ geißelt. | |
Reform UK sei weder rechtsextrem, faschistisch, xenophob noch rassistisch, | |
sagt Habib der taz am Telefon. „Was Einwanderung betrifft, sind wir nicht | |
mal gegen Einwanderung, sondern nur gegen Einwanderung in der gegenwärtigen | |
Geschwindigkeit.“ Reform UK fordere lediglich eine offene Debatte über den | |
Schutz, „unserer Geschichte, unserer Kultur, unserer Sprache und unserer | |
Gesellschaft.“ Auf die Frage, wieso man dafür nicht die Konservativen | |
wählen sollte, antwortet Habib, die hätten bewiesen, dass sie mit ihren | |
verschiedenen Flügeln nicht funktionieren. | |
Auf der Straße zeigt sich ein 22-jähriger Politikstudent an Reform UK | |
interessiert. „Mir sagen die Aussagen über Steuersenkungen zu“, sagt er und | |
verweist auf die Steuerlast, die unter den Konservativen auf die höchste | |
seit dem Zweiten Weltkrieg gewachsen ist. Doch Ehepaar Lianne und Michael | |
Batten, er LKW-Fahrer, sie Krankenpflegerin, beide Anfang 50, gefällt zwar | |
einiges an Reform UK, nicht aber das Überbordwerfen der britischen | |
Klimaschutzziele. Ihre Stimme ginge deshalb an Harrison. Wieso nicht | |
Labour? „Die behaupten alles, nur um zu gewinnen“, sagt Michael Batten. | |
## Menschen statt Slogans: Die Parteilose | |
Doch manche sprechen weder von den einen noch den anderen. Buchhalterin | |
Martine Kingsley, um die 50 Jahre alt, will die unabhängige Kandidatin | |
[6][Marion Turner-Hawes] wählen. Sie sei die einzige, der wirklich etwas an | |
der Stadt liege. „Niemand anders ist für die Rettung unserer Bäume | |
verantwortlich“, sagt sie. | |
Die 59-Jährige ließ sich bereits 2015 und 2019 für die Grünen aufstellen, | |
kam aber nicht über fünf Prozent. „Ich bin heute der Meinung, dass | |
Unabhängigkeit am besten ist, weil man dann nicht auch noch für die Partei | |
organisieren muss“, erzählt sie der taz. Turner-Hawes lässt ihre Karriere | |
Revue passieren: Programme zur städtischen Wiederbelebung in Birmingham und | |
Nord-London, ein Selbsthilfe-Unterstützungsnetzwerk für Menschen mit | |
Behinderungen, Programme zur Müllbeseitigung in verwahrlosten Ecken und | |
eine Aktion zur Rettung von 61 Bäumen, die durch den Bau einer | |
Umgehungsstraße bedroht sind. | |
„Meine Vision ist, dass wir als Menschen und Gemeinschaften | |
zusammenarbeiten und dadurch unser Leben verbessern können“, resümiert sie. | |
Ihre Partei, das seien die Menschen der Stadt. Sie hofft, dass Gespräche | |
mehr zählen als die lauten Slogans der Parteimaschinen. | |
14 Feb 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://en.wikipedia.org/wiki/2024_Wellingborough_by-election | |
[2] https://grassrootsout.co.uk/ | |
[3] https://twitter.com/Gvkitchen | |
[4] https://www.reformparty.uk/ | |
[5] https://twitter.com/benhabib6 | |
[6] https://twitter.com/marion_turner | |
## AUTOREN | |
Daniel Zylbersztajn-Lewandowski | |
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