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# taz.de -- Vergangene Dynamik
> Die Aufbrüche in der Türkei der 1990er und Silke Otto-Knapps Nachbilder
> szenischer Aktionen hat der Kunstverein in Hamburg zu einer
> Doppelausstellung übers Performative gebündelt
Bild: Düster in der Anmutung und zugleich belebend: Otto-Knapps Bühnenbilder
Von Hajo Schiff
Polizeieinsatz: Ein Raub in einer Galerie mit der Drohung, das schöne Bild
eines osmanischen Herrschers zu erschießen; spontanes Volleyballspiel auf
der großen Straßenkreuzung – immer wenn die Fahrzeuge stoppen;
improvisierte aggressive Schimpfkanonaden um ein Auto und zwei Profiboxer
und eine halbnackte „Miss Turkey“ auf dem Fahrrad in der Fußgängerzone: W…
war da los in Istanbul?
Mit seiner aktuellen Doppelausstellung zum Thema Performance widmet sich
[1][der Kunstverein in Hamburg] im Erdgeschoss der türkischen Szene der
1990er-Jahre. Freches Straßentheater und die in alten Fabriken abgehaltenen
Performance-Festivals „Serotonin I + II“ (1989/1992) werden [2][ausführlich
dokumentiert]. Da wird der Lebensweg eines türkischen Mannes schonungslos
karikiert, bis er schließlich als mafiöser Bauunternehmer auf dem
Konferenztisch einen Bauchtanz aufführt. Die Schatten der Passanten werden
auf einem zig Meter langen Straßenbild festgehalten und später versteigert.
Spontaner Straßentanz endet mit der Aufforderung zu spucken – ein
Bürgermeister hatte geäußert, er spucke auf solche Kunst. Es war eine
bewegte Zeit, in der dazu noch das neue Privatfernsehen Travestie und
Softporno in die Häuser brachte.
Ausführlich wird auch das „Assos Festival für Darstellende Kunst“
gewürdigt. Von 1995 bis 1997 fand in der alt-griechischen Stadt gegenüber
der Insel Lesbos, in der sich einst für zwei Jahre auch Aristoteles
aufgehalten hatte, jährlich ein Performance-Treffen statt. Nicht nur auf
der Akropolis: Die Besonderheit dabei war die Beteiligung der Einwohner und
eine wochenlange Vorbereitung mit dem ganzen, heutig dort befindlichen Dorf
Behramkale.
Doch die anarchischen Happenings sind eindrucksvoller. Tamer Ceylan ließ
1995 zu einer nächtelangen Luxus-Vernissage „Monte Carlo Stili“ mit
Champagner-Empfang auf eine Yacht einladen. Doch das einzige, was daran
nicht Fake war, waren die edlen, auf Metallfolie gedruckten Einladungen. An
der angegebenen Adresse gab es nur vier kleine, eher unbedeutende Bilder
und einen Text.
Letztlich ist die kritische Grunddisposition von Happening und
Straßentheater mit Beteiligung des Publikums noch über eine überraschende
Selbsterkenntnis hinaus keineswegs unpolitisch: Ab Februar 1997 konnte aus
diesen Kreisen erreicht werden, dass Tausende zu einer bestimmten Uhrzeit
des Licht für eine Minute löschten, um so gegen die offenbar gewordene
massive Korruption zu protestieren.
„The 90s Onstage“ zeigt mit seiner Fülle an Videos und Bilddokumenten
[3][eine vibrierende, respektlose, manchmal erotisch konnotierte und
kopftuchfrei kreative Szene], wie sie unter dem derzeitigen
religiös-halbdiktatorischen Pascha kaum mehr möglich ist. Immerhin wurde
diese Dokumentation in ähnlicher Form 2022/23 in den Räumen von „Salt“
gezeigt. Das ist eine 2011 gegründete Institution für zeitgenössische Kunst
und Kultur mit Bibliothek, Forschungsarchiv und mehreren Ausstellungs- und
Veranstaltungsorten in Istanbul und Ankara. Betrieben wird sie bei freiem
Eintritt von einer Bank.
Ein Stockwerk höher geht es um die Frage: Lässt sich ein Bühnengeschehen
angemessen auch in stiller Malerei darstellen? Dem gehen 22 Arbeiten der
1970 in Osnabrück geborenen Malerin [4][Silke Otto-Knapp] zum Thema
„Bühnenbilder“ nach. Sie füllen den ganzen Raum. Und sie sind, obschon fr…
an den Säulen hängend oder als Paravents aufgestellt, strikt frontal wie in
einem großen Guckkasten arrangiert: Damit bilden sie das Bild einer Bühne –
besonders, wenn sich zwischen ihnen noch Besucher*innen bewegen.
Unter gelbem Licht zeigen die meisten der mit Aquarellpigment auf Leinwand
in Schwarz-Weiß und allen Abstufungen von Grau gemalten Bilder in
unterschiedlichem Abstraktionsgrad Personen in verschiedenen, auch
tänzerischen Haltungen. Und dazu immer wieder den Mond. Silke Otto-Knapp,
die in Hildesheim und London studiert hatte, starb bereits 2022 in Los
Angeles an Krebs: Nach einer ersten Professur in Wien hatte sie an der
University of California seit 2015 gegenständliche Malerei gelehrt. In
ihrer durchaus ungewöhnlichen Maltechnik stellte sie dunkel verhangene,
verwaschene Landschaften, manchmal ganze Theaterszenen, vor allem aber
Silhouetten von Bühnenakteuren dar.
Bühnenbilder im engeren Sinn werden dabei nur wenige gezeigt. Darunter
fällt die fünfteilige, fast sechs Meter breite Nachempfindung eines nur aus
geometrischen Figuren bestehenden Entwurfs einer „Normalbühne“ von Kurt
Schwitters. Das meiste sind Bilder von der Bühne, positiv oder negativ
schattenhafte Nachbilder wie aus den Träumen der Akteure.
Theaterkenner können einzelne Szenen auch Vorbildern zuordnen, von Brecht
bis Yves Saint-Laurent, vom angelsächsischen Tanztheater bis zu den Filmen
Rainer Werner Fassbinders. Doch auch ohne das haben die eingefrorenen Posen
vergangener Proben eine starke Wirkung. Sie scheinen nur auf die
unmittelbar kommende Aktion in der Aufführung zu warten. Trotz der etwas
düsteren Stille bekommt der Raum in seiner beeindruckenden Gesamtheit so
seltsamerweise etwas fast Belebtes.
Doppelausstellung „The 90s Onstage“ und „Silke Otto-Knapp: Bühnenbilder�…
Kunstverein in Hamburg, Klosterwall 23, bis 14. 4.
19 Feb 2024
## LINKS
[1] /!5380100&SuchRahmen=Print
[2] http://www.kunstverein.de
[3] /!1479196
[4] https://www.akbild.ac.at/de/news/2022/otto-silke-knapp
## AUTOREN
Hajo Schiff
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