# taz.de -- Sehnsucht nach einem friedlicheren Land | |
> Bei den Wahlen in der Türkei am Sonntag will ein Bündnis aus Kurden und | |
> Linksparteien vor allem die Islamisten schwächen. Doch die | |
> Wohlfahrtspartei gibt sich zuversichtlich ■ Aus Istanbul Jürgen | |
> Gottschlich | |
An diesem Tag hat selbst Allah ein Einsehen. Kurz bevor eine der letzten | |
großen Wahlveranstaltungen der Hadep-Partei im Westen der Türkei | |
stattfindet, reißt die Wolkendecke auf, und die Sonne spiegelt sich im | |
Mamarameer. Drei Tage hatte es fast ununterbrochen geregnet, und so drohte | |
das Wahlfest in der kleinen Küstenstadt Kartal nahe Istanbul buchstäblich | |
ins Wasser zu fallen. Jetzt aber füllt sich der Ort mit den gelben Fahnen | |
der Partei. | |
„Frieden“, „Freiheit“ und „Arbeit“, sind die Parolen, die die Massen | |
mobilisieren sollen. Tatsächlich hat eine große Wahlveranstaltung am | |
Bosporus immer etwas von einer türkischen Hochzeit. Schon auf der Route von | |
Istanbul nach Kartal wimmelt es von hupenden Autos, aus deren Fenstern | |
Fahnen geschwenkt werden; jeder Stau verwandelt sich in eine kleine | |
Vorabkundgebung. Die Veranstaltung gerät zum Happening: Auftritte des | |
Partei-Establishments sind zwar wichtig, vor allem aber feiert die Masse | |
sich selbst, tanzt, singt und feuert sich zum Endspurt an. | |
Die Partei wendet sich sowohl an die Kurden als auch an die türkische | |
Linke; zu Kundgebung haben sich versprengte Reste türkischer Maoisten, die | |
stundenlang unverdrossen ihre roten Fahnen im Gleichtakt schwenken, ebenso | |
eingefunden wie traditionell gekleidete Kurden. Die Partei will auf keinen | |
Fall als reine Kurdenorganisation abgestempelt werden, und so wird in | |
Kartal die Nachricht begeistert beklatscht, daß der türkische Romancier | |
Yasar Kemal zur Wahl von Hadep aufgerufen hat. Wer Frieden in der Türkei | |
will, so Kemal, soll diese Partei wählen. Ein gutes Wahlergebnis von Hadep, | |
erklärt auch ihr Vorsitzender Murat Bozlakn, wäre ein Signal an die | |
Herrschenden, daß die türkische Gesellschaft den Krieg satt hat. | |
Auch die Vereine der religiösen Minderheit der Aleviten haben ihre | |
Unterstützung für die Partei erklärt. In Gaziosmanpasa, dem Istanbuler | |
Bezirk, in dem vor Jahresfrist die Aleviten ihren Aufstand probten, hoffen | |
ihre Vertreter deshalb auf ein besonders gutes Ergebnis. Dort ist immer | |
noch besonders viel Polizei auf den Straßen zu sehen, die Kämpfe finden | |
jedoch auf einem anderen Terrain statt: Der örtliche Kandidat von Hadep ist | |
ein gutes Beispiel dafür. Hidir Dogan ist Alevit, Kurde und Kommunist und | |
allein deshalb ständig in Konflikt mit der Polizei. Das erste Mal im Knast | |
saß er wegen verbotener politischer Aktivitäten unmittelbar nach dem Putsch | |
1980 – damals war er 16 Jahre alt. Jetzt ist er als einer der angeblichen | |
Rädelsführer des Alevitenaufstands angeklagt und führt deshalb einen | |
schwierigen Wahlkampf. „Als ich mein Stadtteilbüro eröffnete, wurde es | |
gleich von der Polizei umstellt und durchsucht. Jetzt traut sich kaum ein | |
Mensch dorthin“, erzählt er lakonisch. „Wir müssen deshalb gleich auf die | |
Straße gehen.“ | |
Das ist aber auch nicht so einfach, denn der Stadtteil macht einen | |
trostlosen Eindruck. Die meisten Häuser sind entweder halbe Baustellen oder | |
halbe Ruinen, und die Kanalisation ist vom Regen restlos überfordert. Das | |
öffentliche Leben spielt sich in den zwei, drei Cafés an der Hauptstraße | |
ab. Dort ist die Stimmung alles andere als optimistisch. Zwar bestätigen | |
die meisten, man werde wohl Hadep wählen – aber ob das wirklich den Frieden | |
bringt? | |
In Gaziosmanpasa leben viele Familien, deren Kinder in den Bergen sind. | |
Nicht als Soldaten, sondern bei den sogenannten Terroristen der PKK. Sie | |
wollen, daß ihre Kinder zurückkommen, und sind nicht nur gegenüber der | |
türkischen Regierung skeptisch, sondern fragen sich auch, ob die PKK | |
wirklich den Frieden will. Zwei Angesprochene geben sich gleich als | |
Anhänger der Sozialdemokraten beziehungsweise der amtierenden | |
Regierungschefin Tansu Çiller zu erkennen. Sie halten von einer | |
Kurdenpartei gar nichts und wollen auch nicht, daß ihre Partei mit Hadep | |
zusammenarbeitet, wenn diese ins Parlament kommen sollte. Wenn es sein muß, | |
dann schon lieber mit der islamischen Wohlfahrtspartei Refah | |
zusammenarbeiten. | |
Tatsächlich wird die Frage, ob Hadep die Zehnprozenthürde schafft, vor | |
allem in Konkurrenz zur Refah in den Slumgürteln der Großstädte im Westen | |
entschieden. Die kurdische Landbevölkerung, die in den letzten Jahren nach | |
Istanbul, Adana oder Mersin gewandert ist, wählt entweder Hadep oder Refah. | |
Bei den Kommunalwahlen vor zwei Jahren haben die Islamisten auch deshalb so | |
gut abgeschnitten, weil die kurdische DEP – Vorgängerin der Hadep – kurz | |
vor den Wahlen verboten wurde. „Der Wahlkampf von Hadep“, sagt denn auch | |
einer der Organisatoren im zentralen Wahlkampfbüro in Istanbul, „läuft | |
deshalb ohne große Behinderung, weil die beiden großen bürgerlichen | |
Rechtsparteien hoffen, daß Hadep die Islamisten schwächt.“ | |
Diese Gefahr sehen Vertreter von Refah erst einmal nicht. In Sultanbeyli, | |
einem der großen Istanbuler Slumgebiete am östlichen Rand der Stadt, in dem | |
knapp 300.000 Menschen leben, regiert seit 1991 die islamische | |
Wohlfahrtspartei Refah. Sultanbeyli wird bereits in zweiter Generation von | |
den Einwanderern aus der Osttürkei bewohnt. Aus den über Nacht gebauten | |
Hütten sind mittlerweile feste Häuser geworden, einige Straßen sind geteert | |
und beleuchtet. | |
In dem Bezirk leben traditionell viele Kurden. Der örtliche Vorsitzende der | |
Wohlfahrtspartei, Yahya Karakaya, ein graubärtiger Geschäftsmann, tut Hadep | |
mit einer Handbewegung ab. „Wir erwarten 75 Prozent in Sultanbeyli. Außer | |
uns wird höchstens noch Çillers DYP oder die Mutterlandspartei Anap hier im | |
Bezirk etwas gewinnen.“ | |
Refah kann sich in Sultanbeyli auf eine schlagkräftige Parteiorganisation | |
stützen. Das gesamte Gebiet ist in Blocks und kleinere Einheiten | |
aufgeteilt, für die es jeweils einen Parteiverantwortlichen gibt. Das | |
bedeutet soziale Kontrolle, aber auch Präsenz bei den Alltagsproblemen der | |
Leute. „Wir haben die Korruption beseitigt“, behauptet Karakaya, „deshalb | |
vertrauen die Leute uns.“ Der Vorsitzende ist fest davon überzeugt, daß | |
Refah in der gesamten Türkei mit 40 Prozent die Wahlen gewinnen wird. Nur, | |
was sich dann ändern soll, will er gegenüber einem westlichen Journalisten | |
lieber nicht so genau erzählen. „Laizismus“, erklärt er, „bedeutet nicht | |
die Trennung von Staat und Religion, sondern Religions- und | |
Glaubensfreiheit.“ Beides sei in der Türkei heute nicht gegeben, und das | |
wird Refah ändern. | |
Was die Islamisten in der Türkei wirklich verändern würden, falls sie an | |
die Macht kämen, ist neben der kurdischen die zweite große Frage dieses | |
Wahlkampfs. | |
Von Panik gegenüber den Islamisten ist aber in Istanbul wenig zu spüren. | |
Das liegt nicht nur daran, daß eine absolute Mehrheit für die | |
Wohlfahrtspartei völlig unwahrscheinlich ist, sondern auch an dem Charakter | |
der türkischen Islam- Partei. „Refah“, so Taner Akcam, ein Altlinker, der | |
zwischen Hamburg und Istanbul pendelt, „ist doch längst Teil des Systems. | |
Das ist die CSU der Türkei.“ | |
23 Dec 1995 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Gottschlich | |
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