# taz.de -- Wie Galka Scheyer die blaue Vier erfand | |
> Als Netzwerkerin internationalen Formats hat Emilie Scheyer aus | |
> Braunschweig Alexej von Jawlensky, Wladimir Kandinsky, Paul Klee und | |
> Lyonel Feininger in den USA etabliert – als eigene Marke | |
Bild: Wie eine neckische Revanche an der Strippenzieherin wirkt die Handpuppe, … | |
Von Bettina Maria Brosowsky | |
Antisemitismus kennt viele Formen. Es gibt nicht nur den aktiven, in Wort, | |
Schrift oder Verhalten vertretenen, es gibt ihn hierzulande auch als | |
(un-)bewusstes, jahrzehntelanges Ignorieren der durch den Holocaust | |
ausgelöschten jüdischen Kultur. Oft sind es Einzelne, die sich des Lebens | |
und Wirkens einer vergessenen Person annehmen, nachforschen und Quellen | |
befragen, um ein Puzzle zusammenzutragen, das über die Biografie | |
hinausweist. | |
Bravourös geglückt ist dieses Kunststück dem Schweizer Theatermacher | |
Gilbert Holzgang mit der in Braunschweig geborenen Künstlerin und | |
Kunstagentin [1][Galka Scheyer] (1889–1945), die Anfang des Jahrhunderts | |
eine zentrale Rolle für die Verbreitung neuer, europäischer Kunst in den | |
USA spielte. Seine kürzlich erschienene, über 340 Seiten starke, | |
großformatige Publikation „Galka Scheyer. Ein Leben für Kunst und | |
Kreativität“ erzählt materialreich und fesselnd eine personifizierte | |
Kulturgeschichte. Die spannt sich international aus und vermag im | |
amerikanischen Exil Kunst, Architektur und Markt zu verbinden. | |
Gilbert Holzgang lebt seit über 20 Jahren in Braunschweig. Er war | |
Mitbegründer des freien LOT-Theaters und ist Herr eines eigenen | |
Dokumentar-Theaters „Zeitraum“. Mit ihm bringt er seit Langem szenische | |
Lesungen auf die Bühne, meist in Theatersälen alter Gaststätten. Galten | |
erste Stücke lokalen NS-Größen und der Kontinuität ihres Wirkens nach 1945, | |
hatte er bald genug von Goebbels und Konsorten, wie er es ausdrückt. Im | |
Jahr 2018 würdigte er mit Götz von Seckendorff (1889–1914) anhand von | |
dessen Briefen einen gleichaltrigen Nachbarn und Malerkollegen Scheyers. Er | |
intensivierte seine Arbeit zu ihr, ist seit 2020 Vorsitzender des | |
Braunschweiger Galka Emmy Scheyer Zentrums. | |
Eine Quelle seiner Publikation waren Tagebücher seiner Protagonistin, die | |
ihre Nachlassverwalterin und Jugendfreundin Lette Valeska (1885–1985) | |
entgegen der testamentarischen Verfügung nicht vernichtete sondern zu, | |
sicherlich idealisierten, Lebenserinnerungen edierte. [2][Der ebenfalls aus | |
Braunschweig gebürtigen späteren Hollywood-Fotografin Valeska] galt auf | |
Anregung Holzgangs kürzlich eine Ausstellung im Städtischen Museum | |
Braunschweig. Die Publikation bildet nun die Vorhut einer kommenden | |
Würdigung Scheyers. | |
Die schillernd exzentrische, aber auch schwierige Figur Galka Scheyer ist | |
ein lohnendes Objekt der Betrachtung. Bereits 2019 veranstaltete die Bet | |
Tfila Forschungsstelle für jüdische Architektur der TU Braunschweig eine | |
wissenschaftliche Tagung zu ihr. Seit 2021 liegt der Ergebnisband vor. | |
Scheyers Lebensweg verlief ähnlich dem vieler gutbürgerlich assimilierter, | |
religionsferner deutscher Jüdinnen und Juden im 20. Jahrhundert. Behütet | |
und materiell versorgt, konnte die als Emilie Esther, genannt Emmy, | |
Geborene Musik- wie Malereiunterricht nehmen und Fremdsprachen lernen. | |
Ihre eigene künstlerische Tätigkeit, die sie ab 1916 reduzierte, jedoch nie | |
aufgab, schlug sich in einem beachtlichen Frühwerk nieder. Ihm galt 1919 | |
eine Ausstellung im herzoglichen Museum in Braunschweig. Die lokale Kritik | |
würdigte den „Farbenrausch“ der Bilder. Die Zäsur anno 1916 war die | |
Konsequenz aus einer Begegnung mit dem russischen Maler Alexej von | |
Jawlensky. Der, 25 Jahre älter, lebte in materieller Bedrängnis in der | |
Schweiz, seit er infolge des Ersten Weltkriegs seine Wahlheimat München | |
hatte verlassen müssen. In seinen Werken erkannte Scheyer eine tiefe | |
geistige Fundierung und transzendente Qualität – und gestand sich ihre | |
eigenen künstlerischen Grenzen ein. | |
Fortan war sie Jawlenskys Vertraute und Agentin. Er gab ihr den Namen | |
Galka, zu Deutsch: Dohle, wegen ihrer alles durchdringenden Stimme und | |
resoluten Art. Mit Elan begann sie, seine Arbeit zu propagieren und | |
Verkäufe zu vermitteln. Sie organisierte eine mehrjährige | |
Ausstellungstournee quer durch Deutschland, häufig, wie in der Kestner | |
Gesellschaft Hannover, begleitet von eigenen Vorträgen. | |
Finanziell durchaus erfolgreich, erhielt Scheyers Tätigkeit einen fast | |
vernichtenden Dämpfer, just als sie erhoffte, in Weimar am Bauhaus Fuß | |
fassen zu können: Sie hätte sich Bilder Jawlenskys unrechtmäßig angeeignet | |
und biete sie nun zum Verkauf an, lautete 1922 die Verleumdung. Dass | |
Jawlensky sich uneindeutig positionierte, gehörte wohl zu den vielen | |
Enttäuschungen in Scheyers Leben. | |
Am Bauhaus hatte Scheyer die Lehrenden Paul Klee, Wassily Kandinsky und | |
Lyonel Feininger kennengelernt. So erweiterte sie die Riege der von ihr | |
vertretenen Künstler und erfand 1924 ein Label für sie: Die Blaue Vier, | |
mitunter auch die „4 Blauen Könige“ waren geboren – und die sahen in | |
Scheyer ihr „Kindermädchen“, ihren „little friend“ oder ihren „Minis… | |
Für diese „Blue Four“ brach sie auf Ausstellungs- und Verkaufsreise in die | |
USA auf. Dorthin kehrte sie 1933 als fast mittellose Exilantin zurück. Ihr | |
waren dann noch zwölf Jahre vergönnt, ausgefüllt mit mäßigen Erfolgen und | |
auch missgünstiger Konkurrenz im Kunsthandel, aber großer Wirkkraft als | |
Netzwerkerin internationalen Formats. | |
Künstler:innen, Emigrant:innen, Museumsleute und Avantgarde-Architekten, | |
die Hollywood-Prominenz oder auch ein Einzelgänger wie John Cage | |
profitierten von ihren Kontakten. Nicht nur zum Broterwerb arbeitete sie | |
als Kunstpädagogin mit Kindern. Ihr Konzept einer „free imaginative and | |
creative Art“ sollte sie zum selbstbestimmten künstlerischen Ausdruck | |
ermutigen. Das Los Angeles Museum zeigte 1940 eine Auswahl von in diesem | |
Unterricht entstandenen Kinderzeichnungen. | |
Scheyer sei in vielem intuitiv ihrer Zeit voraus gewesen, fasst Holzgang | |
zusammen. Sie habe, allen finanziellen Engpässen, gesundheitlichen | |
Rückschlägen und persönlichen Kränkungen zum Trotz, unermüdlich ihr breites | |
Interessens- und Arbeitsspektrum verfolgt. „Galka Scheyer und die Blaue | |
Vier“ heißt, pünktlich zum 100 Jahre nach deren Erfindung, eine Ausstellung | |
im Städtischen Museum Braunschweig. Und natürlich hat Gilbert Holzgang noch | |
unbekanntes Material in petto. Das nutzt er, um ab April mit seiner neuen | |
Theaterproduktion „Galka Scheyer, ganz allein“ seine Protagonistin sehr | |
persönlich zu ehren. | |
Buch Gilbert Holzgang: „Galka Scheyer. Ein Leben für Kunst und | |
Kreativität“, Petersberg, Imhof Verlag, 352 S., 49,95 Euro | |
Ausstellung „Galka Scheyer und die Blaue Vier“, 23.2. bis 19.5., | |
Städtisches Museum Braunschweig | |
Performance „Galka Scheyer, ganz allein“, ab April, alle Infos unter | |
[3][www.theater-zeitraum.de] | |
17 Jan 2024 | |
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## AUTOREN | |
Bettina Maria Brosowsky | |
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