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# taz.de -- Feministisch dekonstruiert
> Charlotte Mullins’beeindruckend leicht erzählte Geschichte der Kunst
> räumt auf mit der Männerzentriertheit der Kunst
Von Ingo Arend
Eine Kunstschule für Frauen. Weil es in ihrer Heimat keine Ausbildung für
Künstlerinnen gab, griff Elisabetta Sirani 1660 in Bologna zur Selbsthilfe.
Die Malerin, 1638 geboren, starb mit 27 Jahren und hinterließ über 200
Gemälde. In kunsthistorischen Lehrbüchern muss man lange nach der
Künstlerin suchen, die gern weibliche Helden aus Antike und Bibel als Motiv
wählte. Im 17. Jahrhundert überstrahlt das Licht Guido Reni alles und alle.
Bezeichnenderweise liegt Sirani heute in dem Grab ihres Bologneser
Zeitgenossen.
Wenn im Kunstdiskurs die Frage nach den Frauen in der (westlichen)
Kunstgeschichte auftaucht, bemühen (meist männliche) Kritiker gern die
institutionellen Hürden: Sie seien ja von den Akademien und damit – leider,
leider – auch von den Karrieren ausgeschlossen gewesen. Spätestens mit dem
jüngsten Buch von Charlotte Mullins schrumpft dieses Argument zur faulen
Ausrede. In dem voluminösen Werk der britischen Journalistin, die auch für
die BBC arbeitet, wimmelt es nämlich nur so von „vergessenen“ und
„übersehenen“ Künstlerinnen.
Dabei stellt Mullins in ihrem ambitionierten Überblick von den ersten
Höhlenzeichnungen über die Renaissance bis zu den KI-Artisten Refik Anadol
und Beeple nicht nur Künstlerinnen wie Artemisia Gentileschi und Lavinia
Fontana heraus. Die zwei Malerinnen des Barocks und des Manierismus gehören
zu den wenigen, die es in den letzten Jahrzehnten ans Licht der
Öffentlichkeit geschafft haben.
Wir erfahren, wie die flämische Buchmalerin Susanna Horenbout 1526 das
Image des verhassten Tyrannen Heinrichs VIII. mit Porträts erfolgreich
korrigierte. Oder wie die US-Künstlerin Lynda Benglis mit farbigem Schaum
die Ziegelsteinskulpturen des spröden Minimal-Heroen Carl Andre
konterkarierte.
Mullins’Buch ist ein herrliches Paradox. Ohne eigenen theoretischen Ansatz,
allein mit dem bescheidenen Vorsatz einer „weiter gefassten Neuerzählung
der Kunstgeschichte“ angetreten, gelingt einer Journalistin die
(feministische) Dekonstruktion der Kunstgeschichte, an der sich
Wissenschaftler:innen seit Dekaden erfolglos abmühen, indem sie sie
einfach anders „erzählt“.
Oder sagen wir: teilweise. Die westliche geprägte Kunst steht auch bei
Mullins im Fokus. Der Globale Süden kommt nur sporadisch in den Blick: etwa
wenn sie die Kunst der indischen Mogulkaiser erwähnt oder die Malerin
Margaret Preston, die für die Kunst der Aborigines in Australien kämpfte.
Ganz neu schreibt auch Mullins die Kunstgeschichte nicht. Doch es ist
faszinierend, wie sich das sattsam bekannte Bild dieses scheinbar von
Männern durchgesetzten Fortschritts grundlegend wandelt, wird es um den
weiblichen Anteil ergänzt.
Ganz nebenbei beantwortet Mullins mit ihrem Werk die Frage, die die
US-Kunsthistorikerin Linda Nochlin 1971 in ihrem berühmten Aufsatz „Why
Have There Been No Great Women Artists?“ stellte. Es ist gar nicht so, dass
es sie nicht gab. Es hat sich nur nie jemand die Mühe gemacht, sie
akribisch zu recherchieren. Mullins kann das Verdienst für sich
reklamieren, dieser beeindruckenden Phalanx erstmals den gebührenden
historischen Platz eingeräumt zu haben – ohne sie zu Ausnahmen zu
degradieren oder in Fußnoten zu verstecken.
Zu allem Überfluss kommt das Ganze noch maximal lesbar daher, ohne
demonstrativ ausgestellte Codevokabeln oder gewundene akademische
Herleitungen. Ihr begeisterndes Buch, prachtvoll bebildert und hervorragend
übersetzt, ist das Glanzstück einer Aufklärung aus dem Geist des populären
Journalismus. Gerade weil es so eingängig geschrieben ist, durchbricht es
die stereotype Wahrnehmung – gehört also auch zur (Geschichte der) Kunst.
13 Jan 2024
## AUTOREN
Ingo Arend
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