# taz.de -- Wenn Obertöne um die Ohren fliegen | |
> Ein Klavier im Nebel – und ein Rätsel, wie der Pianist die Noten erkennt. | |
> Musik von Claude Debussy und Tristan Murail vereint sich im alten | |
> Orchesterprobensaal der Staatsoper zur experimentellen | |
> Konzert-Performance „The Timeless Moment“ | |
Von Katharina Granzin | |
„Wir gehen dann jetzt los!“, ruft der junge Mann vom Einlass und bedeutet | |
der kleinen Menschenmenge, die sich im Foyer des Intendanzgebäudes der | |
Staatsoper versammelt hat, ihm zu folgen. Folgsam trotten wir hinterher, | |
quer durchs Haus und eine Treppe hinauf, wo vor dem Eingang zum alten | |
Orchesterprobensaal ein weiterer Mann in schwarzem Anzug schwere kleine | |
Metallkugeln an die Ankommenden verteilt, je eine pro Person. Beim Eintritt | |
in den Saal fällt die Orientierung zunächst schwer. Dichter Bühnennebel | |
durchzieht den Raum, der von diffusem Licht nur schwach beleuchtet wird. | |
Es reicht aus, um nicht in die große Installation zu stolpern, die den Saal | |
durchzieht: Einen Teich mit Seerosen soll sie womöglich darstellen, | |
hergestellt aus einer Gummimatte und einigen darauf verteilten, flachen | |
großen Schalen, in denen sich das schwache Licht fängt. Das Ende des Saals | |
liegt vollständig im Dunkeln. Eine „Konzert-Installation“ nennen die | |
Regisseurin Silvia Costa und der Pianist Alain Franco ihr Programm, in dem | |
Musik von Claude Debussy und Tristan Murail in Zusammenhang tritt mit dem | |
diesem Setting, das lange Zeit einfach still daliegt. Wie eine | |
Geistererscheinung taucht aus dem Dunkel des Saalendes allmählich ein | |
Flügel und der Pianist ins immer noch schwache Licht. Es ist ein Rätsel, | |
wie Alain Franco in den ersten Minuten seines Spiels die Noten erkennt. | |
Er wird eine Stunde lang ununterbrochen musizieren. Auch die Performance | |
der Musik unterliegt an diesem Abend einer Neu-Installation. Die Grenzen | |
zwischen einzelnen Stücken sind aufgehoben, sie liefern lediglich das | |
musikalische Material, kleine oder große Fragmente, aus dem ein neuer | |
Ablauf geformt wurde. Pausen gibt es nicht, alles Material ist ineinander | |
verschränkt, und manchmal fragt man sich, was eigentlich gerade zu hören | |
sein mag – Debussy oder Murail? Zweifellos ist das Provozieren dieser Frage | |
eine der Absichten, die diese Performance verfolgt. | |
Zwar liegt, musikalisch und biographisch, fast ein ganzes Jahrhundert | |
zwischen Claude Debussy und dem 1947 geboreren Tristan Murail, doch gibt es | |
gute Gründe, den einen als eine Art Vorläufer des anderen zu betrachten. | |
Murail wird zu den Spektralisten gezählt, einer Kompositionsrichtung, die | |
sich vor allem der Erforschung und Ausreizung des Klangspektrums von Tönen | |
verschrieben hat – das bedeutet vor allem das Arbeiten mit Obertönen, die | |
(fast) immer mitschwingen, deren Wirkung aber oft vernachlässigt wird. Die | |
mehr oder weniger starke Wahrnehmbarkeit von Obertönen hat viel mit der | |
Klangfarbe eines Tons zu tun. Auch Debussy, der in der Musik seiner Zeit | |
für einen innovativen Schub in puncto Klangfarbenreichtum und Harmonik | |
sorgte, wusste das natürlich. | |
Dass beides gut ineinander übergehen kann, belegt dieser Abend am | |
Seerosenteich. Der Teich selbst hält noch eine Überraschung bereit, denn | |
ein blindes Mädchen (Fanny Däuper), das sich langsam über die Szenerie | |
bewegt, erweckt ihn zum Leben. Plötzlich beginnen die vermeintlichen | |
Seerosen zu zittern, und es zeigt sich, dass jede von ihnen selbst ein | |
Teich ist. Irgendwann fängt das Mädchen an, die Musik zu kommentieren | |
(„Vögel zwitschern!“, „Ein König kommt!“), was angesichts des heiligen | |
intellektuellen Ernstes, der die Performance durchweht, als überraschend | |
naiver Stilbruch wirkt. Dann singt sie in Call-und-Response-Manier ein paar | |
Intervalle aus Debussys „Clair de lune“ zum Klavier. | |
In starkem Kontrast zu solchen Ansätzen klangseliger Innerlichkeit endet | |
der Abend in bruitistischen Tonwiederholungen. Da fliegen einem die | |
Obertöne nur so um die Ohren. Musik kann schön sein. Muss aber nicht. Für | |
welche Art von Anwendung unsere kleinen Metallkugeln eigentlich gedacht | |
waren, bleibt übrigens bis zum Schluss rätselhaft. | |
8 Jan 2024 | |
## AUTOREN | |
Katharina Granzin | |
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