# taz.de -- Harald Welzer über die Klimakrise: Verbrauchte Ziele | |
> Der Klimawandel wird in großen Teilen ungebremst erfolgen. Statt uns auf | |
> unerreichbare 1,5- oder 2-Grad-Ziele zu fixieren, sollten wir schleunigst | |
> unsere Städte, Gemeinden und Infrastrukturen katastrophenresilient | |
> machen. | |
Bild: Der Mensch hat es in der Hand, durch zarten Umgang Leben zu erhalten | |
[1][taz FUTURZWEI] | »Wissenschaftler:innen und Expert:innen sehen in ihrer | |
Bestandsaufnahme auf dem 13. ExtremWetterKongress die Chance als verpasst | |
an, mit relativ wenig Aufwand das Klimasystem zu stabilisieren. Der | |
Klimawandel wird aus Sicht der Konferenzteilnehmer:innen nun in großen | |
Teilen ungebremst erfolgen, womit nicht mehr abwendbare massive | |
Veränderungen auf unserem Planeten zu erwarten sind.« So heißt es in der | |
Zusammenfassung des Extremwetterkongresses 2023, auf dem auch mitgeteilt | |
wurde, dass man das Erreichen des berühmten 1,5-Grad-Zieles, also das | |
Einbremsen der Erderhitzung auf diesen Steigerungswert, vergessen könne. | |
Endlich sagt das mal jemand, dachte ich. Denn wir sind ja längst in einer | |
Situation, in der wir große politische, materielle und psychische Energien | |
in ein Ziel investieren, das längst unerreichbar geworden ist. Anstatt an | |
den schnellen Umbau unserer Infrastrukturen, Städte und Gemeinden zu gehen, | |
um sie robust und resilient zu machen. Zum Beispiel. | |
Mit Reißen des 1,5-Grad-Zieles sind logisch auch die ganzen 2030-, 2045-, | |
2050-Ziele hinfällig, mit denen man die notwendige sozialökologische | |
Transformation als Zukunftsvorhaben träumen konnte, vor dessen Kulisse man | |
ungehemmt so weitermachen konnte wie zuvor. Nun schlafwandelt die | |
gegenwärtig lebende Bewohnerschaft der Welt in einen Prozess hinein, der | |
ihre Lebenssicherheit genauso wie ihre wirtschaftlichen Möglichkeiten | |
extrem beeinflussen wird – Klaus Wiegandt hat das in dem von ihm | |
herausgegebenen Sammelband 3 Grad mehr noch einmal in aller Klarheit | |
dargelegt. | |
Auch wenn es schwerfällt, sich von der angenehmen Illusion zu | |
verabschieden, das Schlimmste sei immer noch zu vermeiden, steckt im | |
Abschied von der Illusion vielleicht aber die Chance, die Frage der | |
Erderhitzung und der Zerstörung der Biosphäre endlich wieder zu einer | |
politischen zu machen. Denn der größte Erfolg der Nutznießer und | |
Propagandisten des Wachstumskapitalismus war es ja, den Problemzusammenhang | |
eines zunehmend zerstörten Klima- und Ökosystems auf eine Angelegenheit zu | |
reduzieren, die man den Ingenieurinnen und Technikern und genialerweise | |
auch den Ökonomen überlassen könne. | |
## Rückkehr zur Politik | |
Im Unterschied zu den Anfängen der Ökologiebewegung, die immer die | |
Gesellschaft und ihre Wirtschaft im Blick hatte, war das halbe Jahrhundert | |
seither eine Zeit der Entpolitisierung, die darin gipfelt, dass die | |
radikalste soziale Bewegung in dieser Angelegenheit, die »Letzte | |
Generation«, so bescheidene Ziele einfordert wie ein Tempolimit, ein | |
9-Euro-Ticket sowie einen Gesellschaftsrat und sich mit ihren | |
diesbezüglichen Anträgen zuständigkeitshalber an den Bundeskanzler wendet. | |
Da kommt einem gleich Lenins Aperçu in den Sinn, dass der deutsche | |
Revolutionär erst eine Bahnsteigkarte löst, bevor er den Bahnhof besetzt. | |
Aber man kann die Entpolitisierung genauso an dem Aberglauben der absoluten | |
Entkoppelung des Wirtschaftswachstums vom Ressourcenverbrauch, am Green New | |
Deal, an den Grünen als Partei der Ökotechnokratie wie überhaupt daran | |
ablesen, dass zwar mehr »Wenden« ausgerufen werden, als man zählen kann, | |
eine »Wirtschaftswende« aber bislang noch nicht gefordert wurde. Kein | |
Wunder: denn die wäre als Umorganisation unseres gesellschaftlichen | |
Stoffwechsels die unabhängige Variable, von der alle anderen Wenden erst | |
abhingen. Und der Kampf darum wäre deshalb ein politischer, weil er gegen | |
einstweilen noch übermächtige Interessen ginge. Aber davor biegt man lieber | |
ab ins Illusionäre und kämpft gegen Moleküle. | |
Der Sozialpsychologe Dietrich Dörner hat in einem wahrlich wichtigen und | |
deshalb schnell vergessenen Werk über Die Logik des Misslingens schon vor | |
dreißig Jahren dargelegt, dass die Bewältigung komplexer Situationen meist | |
daran scheitert, dass man aus der scheinbar unübersehbaren Menge der | |
Faktoren einen einzigen isoliert, dem man sich dann mit aller Anstrengung | |
widmet. Dörner nennt das eine »Zentralreduktion«. Im Fall des Klimawandels | |
haben die Naturwissenschaften das Treibhausgas Kohlendioxid ins Zentrum | |
aller Bemühungen der Bewältigung gerückt – weil man meint, dieses Molekül | |
langfristig aus dem wirtschaftlichen Metabolismus verbannen und seine | |
Treibhauswirkung annullieren zu können. Alle Nebenfolgen und Fernwirkungen | |
der Eliminierungsversuche – von Energiepreisen über Landschaftszerstörung | |
und Einschränkungen des Naturschutzes bis zu Strukturwandlungen in der | |
industriellen Landschaft – treten vor der Konzentration auf die eine | |
Strategie zurück. Dabei passiert es, dass das anstehende Problem gelöst | |
wird, aber nicht die Probleme, die durch die Lösung erst entstehen. Und | |
dass sich alle Anstrengungen auf ein Ziel richten, das unter anderem | |
deshalb nicht erreicht werden kann, weil neben den physikalischen | |
Gegebenheiten eine Fülle partikularer Interessen im Spiel sind, die an | |
einer Lösung gar nicht interessiert sind. Und die deshalb die | |
Zentralreduktion auf das eine Molekül super finden. | |
## Aktivierung der Eigenverantwortlichkeit | |
»Wenn wir«, schreibt Dörner, »statt uns das komplizierte Geflecht der | |
Abhängigkeiten der Variablen eines Systems klarzumachen, eine | |
Zentralreduktion durchführen, also eine Variable als zentral ansehen, so | |
ist dies in zweierlei Weise ökonomisch: Zum einen spart man auf diese Weise | |
eine ganze Menge weiterer Analysetätigkeit. […] Denn wenn eine Variable im | |
Zentrum des gesamten Geschehens steht, dann braucht man auch nur über diese | |
eine Variable Informationen. Der Rest ist dann ja sowieso abhängig von der | |
Kernvariablen; um den Zustand der anderen Variablen braucht man sich nicht | |
mehr zu kümmern. Auch die Planung von Maßnahmen kann man auf diese eine | |
Zentralvariable beschränken. Die Zentralreduktion ist also an Ökonomie kaum | |
zu übertreffen: Sie erlaubt den sparsamsten Umgang mit der kostbaren | |
Ressource ›Nachdenken‹.« | |
[2][taz FUTURZWEI] als Zentralorgan für die Ressource Nachdenken ergänzt: | |
Und erlaubt den sparsamsten Einsatz von Konflikten, indem das | |
zerstörerische business as usual jenseits des Moleküls nicht infrage | |
gestellt, sondern weiter forciert wird. Wozu das führt, kann man an den | |
gerade auf den Markt kommenden E-Autos mit mehr als 1.000 PS sehen, die | |
gewiss einen wichtigen Schritt im Kampf um ein lebensdienliches Klima | |
darstellen. Oder an LNG-Terminals vor Rügen, die als deutlicher Sieg grünen | |
Fortschritts im Kampf um die Natur zu werten sind. Das alles passiert eben, | |
wenn man eine komplexe Situation nicht nur unterkomplex adressiert, sondern | |
ihre Bewältigung sich so vorstellt, als habe sie mit Macht und Interessen | |
gar nichts zu tun, weil ja alle – von Elon Musk bis Bayer, vom Emir bis zu | |
Porsche – an einem intakten Klimasystem interessiert seien. Das ist, um es | |
altmodisch zu formulieren, pure Ideologie, die dazu dient, das Notwendige | |
so lange zu verhindern, wie das Fortsetzen des Falschen profitabel ist. Für | |
einige. | |
Deshalb interessiert uns, in der vierten Folge von »Wir machen Ernst«, was | |
übrigbleibt, wenn 1,5- oder 2-Grad-Ziele nicht mehr die Leitvorstellung | |
unseres Denkens und Handelns bilden können, weil sie inzwischen illusionär | |
geworden sind. Wir würden versuchsweise sagen: Übrig bleibt die Umsteuerung | |
all unserer intellektuellen, wissenschaftlichen, politischen und | |
materiellen Ressourcen auf die Aufrechterhaltung von Handlungsspielräumen, | |
die uns auch unter böse wachsendem ökologischen und klimatologischen Stress | |
gestatten, eine freiheitliche Ordnung zu bewahren. Und das ist nun etwas, | |
was gar nicht den Ingenieurinnen und Technikern und schon gar nicht den | |
berühmten »Profis« überlassen werden kann, denn diese Bewahrung findet | |
nicht im Ausrufen kostenloser Ziele statt, sondern konkret, vor Ort, durch | |
eigenes Engagement. Also nicht durch abstrakte Transformation, sondern | |
durch konkrete Veränderung des Lebens. Mit anderen Worten: Der Abschied von | |
der großen Illusion öffnet paradoxerweise endlich die Aktivierung der je | |
eigenen Verantwortlichkeit. Weil man sie nicht mehr an große Deals und ein | |
ominöses 2050 delegieren kann. Deshalb interessiert uns, was Jonathan | |
Franzen über die Wichtigkeit der Initiativen vor Ort zu sagen hat genauso, | |
wie Belit Onay als Oberbürgermeister eine Großstadt zukunftsfähig machen | |
will. Und noch einiges mehr, was zu den Tatsachen zurückkehrt und sich in | |
diesem Heft findet. | |
»Du hast keine Chance, also nutze sie« war mal unser handlungsleitendes | |
Paradigma. Das gilt auch jetzt, wo die alten Ziele verbraucht sind: Die | |
Zukunft ist schwierig, aber offen. | |
Dieser Beitrag ist im Dezember 2023 im Magazin [3][taz FUTURZWEI N°27] | |
erschienen. | |
11 Dec 2023 | |
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## AUTOREN | |
Harald Welzer | |
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