# taz.de -- Lückenhafte Datenlage zu Antisemitismus | |
> Seit dem Beginn des Nahost-Kriegs werden vermehrt antisemitische | |
> Übergriffe registriert. Zu wenig im Fokus: Antisemitismus von links | |
von Yelizaveta Landenberger | |
Seit dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober und dem | |
darauffolgenden Gegenschlag der israelischen Armee im Gazastreifen werden | |
Statistiken zum Antisemismus wieder vermehrt zitiert. Denn antisemitische | |
Handlungen und Äußerungen haben deutlich zugenommen, und das sind nur die | |
tatsächlich gemeldeten Übergriffe. Ein Problem bei den vermeintlich | |
objektiven Zahlen zu Antisemitismus: Es gibt in Deutschland | |
unterschiedliche Stellen, die diese Zahlen zusammentragen – und die ihre | |
jeweils eigene Methodik haben. Zusammengeführt werden die Zahlen wiederum | |
nicht. Das heißt: Die Datenlage ist notwendigerweise lückenhaft. | |
Ein weiteres Problem: Antisemitische Handlungen und Straftaten werden von | |
den sammelnden Stellen oft politisch rechts verortet. Die | |
Menschenrechtsorganisationen LeaveNoOneBehind verweist auf eine Statistik | |
zu politisch motivierter Kriminalität des Bundesinnenministerium aus dem | |
Jahr 2022, laut der 82,73 Prozent von insgesamt 2.641 antisemitischen | |
Straftaten von Rechten verübt werden. Lediglich 0,3 Prozent der | |
registrierten Taten wurden dem linken Lager zugeordnet. Die Botschaft: | |
Antisemitismus ist ein Problem von rechts. | |
Die bundesweite Meldestelle Recherche- und Informationsstelle | |
Antismemitismus (Rias) schreibt in ihrem jüngsten Bericht, dass für den | |
Zeitraum vom 7. bis zum 15. Oktober 2023 bundesweit 202 antisemitische | |
Vorfälle zu verzeichnen waren. Das bedeutet einen Anstieg von 240 Prozent | |
im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Acht Prozent der Vorfälle haben demnach | |
einen dezidiert islamistischen Hintergrund, vier Prozent einen | |
„linken/antiimperialistischen“ und nur knapp zwei Prozent einen | |
rechtsextremen Hintergrund. Die restlichen Fälle lassen sich in ihrer | |
politischen Motivation nicht klar zuordnen. Im Vergleich zu den | |
registrierten antisemitischen Straftaten von rechts in der Statistik des | |
Innenministeriums ist das eine Verschiebung des Schwerpunkts. | |
Rias zählt antisemitische Vorfälle allerdings auch unterhalb der | |
Strafbarkeitsgrenze – darin unterscheidet sich diese Statistik | |
grundsätzlich von derjenigen des Innenministeriums. „Für ein realistisches | |
Bild von antisemitischen Taten und Täter*innen-Verhalten braucht es also am | |
besten eine Triangulation, bei der man die Zahlen aus der polizeilichen | |
Kriminalstatistik, das Monitoring von Rias und Betroffenenperspektiven | |
gemeinsam betrachtet“, erklärt die Antisemitismus-Forscherin Sina Arnold | |
von der TU Berlin der taz. | |
Die Kriminalstatistik steht schon lange in der Kritik. | |
Polizeibeamt*innen erkennen antisemitische Straftaten nicht immer als | |
solche, oder Straftaten werden zum Teil als rechts registriert, obwohl sie | |
eigentlich nicht klar einem politischen Lager zuzuordnen sind. | |
Was angesichts der Zahlen aus der Kriminalstatistik allerdings in der | |
Öffentlichkeit oft hängenbleibt, ist dieses: Antisemitismus, das sind die | |
Rechten. Antisemitismus von links wird oft verharmlost. | |
Wissenschaftlerin Arnold meint: „In Teilen der Linken fanden sich | |
reflexhafte Solidarisierungen mit der Hamas und mit einem vermeintlichen | |
palästinensischen ‚Befreiungskampf‘ “ nach dem 7. Oktober. Es sei eine | |
„Glorifizierung von antisemitischen Massakern“ zu beobachten gewesen. Als | |
ideologische Begründung dieser Haltung dienten Antiimperialismus, | |
Antirassismus, Antikolonialismus und andere linke Grundwerte. | |
Die Sozialpsychologin Pia Lamberty vom Center für Monitoring, Analyse und | |
Strategie von Antisemitismus und Rechtsextremismus sagt der taz, | |
Antisemitismus werde nur dort betrachtet, wo man ihn eben sehen wolle – und | |
damit instrumentalisiert: „Rechtskonservative Stimmen fokussieren sich nur | |
auf den Antisemitismus aus der muslimischen Community und blenden den | |
Antisemitismus der Mehrheitsgesellschaft aus.“ Man sehe hier „klassische | |
Abwehrmechanismen in breiten Teilen der Gesellschaft“, sagt Lamberty. | |
„Antisemitismus ist der Antisemitismus der anderen. Ich würde mir wünschen, | |
dass es mehr Auseinandersetzung mit eigenen problematischen Tendenzen geben | |
würde.“ | |
Nicht alle antisemitischen Vorfälle sind strafbar, nicht alle der | |
strafbaren Vorfälle werden zur Anzeige gebracht oder bei Meldestellen | |
registriert. Rias-Geschäftsführer Benjamin Steinitz sagt: „Wir gehen von | |
einem sehr hohen Dunkelfeld antisemitischer Vorfälle aus. Betroffene | |
berichten zum Beispiel, dass sie antisemitische Erlebnisse nicht melden, | |
weil es eine zu alltägliche Erfahrung ist.“ | |
Antisemitismus ist auch da eine Bedrohung, wo er nicht von der Polizei | |
registriert wird. Darüber verrät uns die vermeintliche objektive Zahl von | |
2.641 registrierten antisemitischen Straftaten in 2022 allerdings nichts. | |
Der Autor Richard David Precht hatte kürzlich in einer Talkshow gesagt, | |
orthodoxen Jüdinnen*Juden seien die meisten Beschäftigungen verboten, | |
außer Diamanthandel und Finanzgeschäfte. Precht hat nach viel öffentlicher | |
Kritik seine Honorarprofessur in Lüneburg aufgegeben. Antisemitismus ist | |
allgegenwärtig. | |
[1][taz zwei] | |
1 Nov 2023 | |
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## AUTOREN | |
Yelizaveta Landenberger | |
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