# taz.de -- Generation Z und die Wiedervereinigung: Neue Ossis, neue Wessis | |
> Aron lernt Mathilda kennen. Sie kommt aus dem Westen – er aus dem Osten. | |
> Aber spielt das heute noch eine Rolle? | |
Bild: Aron will mehr über die Wiedervereinigung reden, aber wie ist das mit se… | |
Es ist der Abend nach dem Tag der Deutschen Einheit. | |
Mathilda und ich haben uns gestern in einer Bar in Berlin-Mitte | |
kennengelernt, sind an der U8 Bernauer Straße zu ihr spaziert und | |
eigentlich ist alles super. | |
Dann stehen wir vor ihrer Tür und sie sagt: „Ist jetzt nicht spektakulär, | |
die Gegend hier.“ | |
Unweit von hier steht die Gedenkstätte Berliner Mauer, denke ich. Wieso | |
interessiert Mathilda das nicht? Dann fällt mir ein, dass sie aus | |
Baden-Württemberg kommt, ich aber aus Sachsen-Anhalt und, dass ich mal | |
wieder etwas sagen sollte. | |
„Findest du nicht?“ frage ich also. | |
„Nö!“ sagt sie, küsst mich, und dann ist mir erst einmal alles egal. | |
## Wieso heute noch über die Teilung reden? | |
Aber am nächsten Morgen liege ich neben ihr und bin hellwach. Irgendetwas | |
muss ich sagen, denke ich. Vermutlich würde ich das aber gar nicht, wenn | |
ich nicht am Tag der Deutschen Einheit selbst auf einer Lesebühne ein | |
einschneidendes Erlebnis gehabt hätte. | |
Rückblick: Am Abend lesen alle Autor:innen in so einer Neuköllner Kneipe | |
Texte zum Thema Deutschland und auf einmal fragt eine Frau aus London das | |
Publikum: „Seid ihr nicht wütend, wie die DDR einfach von der BRD | |
zerfleischt wurde?“ | |
Und ich stotterte und sage nichts zum Thema. Bis ich später bei Jerome, der | |
auch bei der Lesung anwesend war, in der Küche sitze. | |
„Als die das gesagt hat, hab ich mich richtig geschämt, muss ich sagen“, | |
gesteht er und drückt seine Zigarette im Aschenbecher vor ihm aus. | |
„Geschämt wegen uns, dem Publikum“, fährt er fort. „Wir waren doch alle | |
einer Meinung und die Frau erzählt als Unbeteiligte was Sache ist: Die DDR | |
wurde einfach komplett vom Westen geschluckt“, sagt er aufgebracht und | |
erzählt weiter davon, wie die großen DDR-Betriebe damals abgewickelt wurden | |
und tausende Leute ohne Arbeit da standen. | |
„Woher weißt du das eigentlich alles?“ frage ich ihn irgendwann. Jerome | |
kommt aus einem Dorf bei Köln und hat mir neulich erzählt, dass er die DDR | |
nur zwei Stunden in seinen zwölf Jahren Schule behandelt hat. | |
„Ich hab angefangen, mehr darüber nachzudenken, seitdem du ständig davon | |
erzählst “, antwortet er. | |
## Ein Thema für junge Generationen? | |
Das stimmt, denke ich. Das Thema lässt mich seit Monaten nicht los. Wenn | |
ich im ehemals geteilten Harz mit älteren Leuten aus dem Osten rede, sagen | |
manche, dass sie die Grenze hier noch immer spüren. Die alten Westler sagen | |
dann, dass aber nicht sie das Problem seien, sondern die Ossis, die immer | |
damit anfangen. Nur erklären auch sie nicht, wo genau das Problem | |
eigentlich liegt. | |
Aber egal mit wem ich dort sprach – wirklich jeder, der vor der Teilung | |
geboren wurde, sagte mir irgendwann: „Aber es ist doch spannend, wenn sich | |
eine ganz neue Generation für das Thema interessiert, ihr habt ja ganz | |
andere Möglichkeiten, das Ganze anzugehen!“ | |
Ehrlich gesagt habe ich mich nie für die DDR und das Thema Osten | |
interessiert, bis mich vor zwei Jahren eine Familienrecherche auch durch | |
die Geschichte der DDR und dann wieder in die Gegenwart schickte – mit der | |
Wiedervereinigung dazwischen. Mit all ihren Ungerechtigkeiten und Fehlern, | |
die vielleicht bis heute die Gesellschaft beeinflussen, denke ich am WG- | |
Küchentisch. | |
## Einheitsdiskurs in WG-Küchen | |
Dann schimpfen Jerome und ich darauf, dass immer noch kaum Ostler in | |
Spitzenpositionen sitzen. Und auf den Mist damals mit der Treuhand, | |
Ex-Kanzler Helmut Kohl und auf die CDU sowieso. Und ich erzähle, dass meine | |
Eltern im Wendejahr Abitur machten und ihr Durchschnitt einfach schlechter | |
gemacht wurde, weil sie in der DDR zur Schule gingen. | |
„Ich meine, das ist doch unfair!“ | |
Schweigen. Nach einer Weile sagt Jerome vorsichtig: „Aber jetzt nur mal so | |
… wenn das Schulsystem jetzt wirklich schlechter gewesen wäre, dann wäre es | |
wirklich unfair einfach allen trotzdem das gleiche zu geben, oder?“. | |
Kurz werde ich wütend, frage mich, wie er es finden würde, wenn seinem | |
NRW-Abitur zum Beispiel in Bayern Notenpunkte abgezogen werden würde. Aber | |
ehrlich gesagt denke ich auch nicht an die benachteiligten Ostler, sondern | |
nur an meine Eltern, die sich allerdings selbst nie groß vor mir zu diesem | |
Thema äußerten. | |
„Irgendwie schwierig die Frage, oder?“, frage ich ausweichend. | |
„Ja mega“, antwortet Jerome und klingt fast erleichtert. | |
Vielleicht werden er und ich auch niemals so ganz ganz unbeteiligt sein, | |
wenn es um das Thema Ost und West geht, denke ich. | |
Trotzdem könnten wir vielleicht die erste Generation sein, die anders auf | |
den vergangenen Teil des Konflikts schaut. Mit dem Vorteil, keine einzige | |
Sekunde in einer der beiden älteren Gesellschaften, der DDR oder der | |
Bundesrepublik, gelebt zu haben. Ich habe keinen Bock mehr, das Thema | |
Wiedervereinigung auf Podiumsdiskussionen auszuhandeln – es soll in den | |
normalen Alltag, weil es den ja eh bestimmt, denke ich. | |
## Wie geht guter Dialog? | |
Wir müssen nicht so tun, als ob es keine Unterschiede zwischen Ost und West | |
geben würde. Aber vermutlich gibt es genügend Leute, Politiker:innen und | |
Zeitungen, die diese niemals in konstruktive Gespräche bringen wollen | |
würden. | |
Vielleicht, weil das Die-Opfer-und-die-Anderen-Spiel einfach sehr | |
verlässlich wirkt, Schuldige wie die NATO oder Grüne findet, vor | |
Veränderungen schützt und einfache Erklärungen im Alltag liefert. | |
„Wie soll man da einen Einheitsdiskurs führen?“, frage ich Jerome | |
schließlich. | |
„Keine Ahnung, aber vor fünfzehn Jahren war es sicher noch ziemlich | |
ungewöhnlich, überhaupt so wie wir über die Einheit zu sprechen“, antwortet | |
er. | |
Und damit zurück ins Jetzt: Mathilda und ich spazieren am Berliner Mauerweg | |
entlang. Das habe ich vorhin im Bett vorgeschlagen und nichts zu gestern | |
gesagt. | |
„Danke, dass du mit mir hier lang gehst, auch wenn dich das hier alles | |
nicht so interessiert“, sage ich jetzt und merke, wie sich meine Finger | |
verkrampfen. | |
Mathilda nimmt meine Hand. „Was meinst du?“ fragt sie irritiert. | |
„Na die Mauer, die DDR und so – du meintest doch, dass du die Gegend hier | |
nicht so spektakulär findest!“ | |
„Ich meinte damit meinen Wohnblock – ich war aufgeregt und wusste nicht, ob | |
es dir bei mir gefällt“, sagt sie und sieht sich um. „Aber hier ist es doch | |
super spannend! Den Mauerweg bin ich außerdem schon mega oft gegangen.“ | |
„Ich noch nie!“, sage ich. | |
„Na dann wird es Zeit!“, entgegnet sie fröhlich und zieht mich mit ihrer | |
Hand zu dem bronzenen Mauergedenkstreifen im Boden. | |
Und dann springen wir zusammen über die Linie, die zeigt, dass dieses Land | |
40 Jahre gewaltsam getrennt war. | |
Ich weiß zwar noch nicht, worüber Ost- und Westdeutsche in Zukunft reden | |
werden. Aber die Erinnerung an die Vergangenheit ist für den Anfang oft | |
hilfreich. | |
Dann küssen wir uns. Und so geht’s doch auch, denke ich. | |
25 Oct 2023 | |
## AUTOREN | |
Aron Boks | |
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