# taz.de -- Ausgehen und rumstehen von Marielle Kreienborg: Mit blutenden Schal… | |
In Berlin umzuziehen, den Kiez zu wechseln, fühlt sich an, wie in eine | |
andere Stadt zu ziehen. Seit zwei Monaten wird mein Badezimmer saniert und | |
genauso lang geistere ich durch wechselnde Wohnungen in verschiedenen | |
Bezirken: Ich war im Schillerkiez, am Mauerpark, in der Prenzlauer Allee | |
und jetzt bin ich in Köpenick. Köpenick, sagte eine Bekannte neulich, sei | |
ein Kompromiss: „Es ist Berlin, aber irgendwie auch nicht.“ | |
Probiere ich aus, wollte sowieso mal wieder aus der Ketamin-Kokain-Wolke | |
raus. Und lerne: Die Wuhlheide ist mehr als eine Open-Air-Bühne und es gibt | |
in dieser Stadt noch Orte wie das BMX-Gelände Mellowpark. Kurz überlege | |
ich, mit meinem Babyface auch Helm und Bike auszuleihen; aufzuhören, eine | |
langweilige, versicherte, verunsicherte Erwachsene zu sein – und lasse es | |
bleiben. | |
Stattdessen schreite ich weiter, aber es wird zusehends schwieriger, am | |
Spreeufer entlang zu spazieren, da das Neubauprojekt „Uferkrone Köpenick“ | |
Uferpromenade und Bootsstege in Privateigentum verwandelt hat. Und 99,9 % | |
des Privateigentum-Besitz-Vergnügens besteht nun mal darin, Schilder mit | |
freundlichen Grüßen wie „Privatweg“, „Privatgrundstück“, „Unbefugt… | |
das Betreten verboten“, „Nutzung des Bootsstegs ausschließlich für | |
Eigentümer“ aufzuhängen. | |
Zurück auf der Hauptstraße sehe ich ein riesiges Polizei-Aufgebot, wobei | |
die meisten Polizist:innen im Inneren ihrer Polizeimobile auf ihre | |
Mobiltelefone gucken. Ich fahnde nach dem Grund dieses Aufgebots und | |
entdecke ein Stadion: „Unsere Heimat seit 1920“. Die Farben der Heimat sind | |
die Farben der Pommes. Als ich von menschlichen wandelnden Wolt-Schildern | |
Gutscheine in die Hand gedrückt bekomme, beschließe ich, fürs Erste genug | |
gesehen zu haben und den Besuch beim „Hauptmann von Köpenick“ für morgen | |
aufzusparen. | |
Später am Abend wage ich mich ein zweites Mal hinaus: Es ist 18 Uhr, das | |
Spiel ist aus und die S-Bahn-Station sieht aus, als hätten sich viele | |
betrunkene Weihnachtsmänner hierhin verlaufen. „Eiserne“, schreit | |
irgendwer. „Union“, hallt es von allen Seiten zurück. „Ja wir lieben | |
unseren Club und wir sind stolz auf ihn…“ Der Eintracht Frankfurt-Fan, der | |
mir in der S-Bahn gegenübersitzt, hält seinen Schal unter der Jacke | |
versteckt. „Leverkusen. Augsburg. Bayern und dann Köln Zuhause.“ So sieht | |
die Wochenendplanung meiner Mitmenschen aus. Ich fahre ins Theater. Männer, | |
heißt es in der „Im Spiegelsaal“-Inszenierung im Deutschen Theater, sagten | |
beim Fußball-Gucken nie: „Oje, so schnell werde ich nie sein – so stark | |
werde ich nie sein! SCHNIEF!“ Männer können Brüderschaft. Sie stärken sich | |
gegenseitig den Rücken, schützen einander und den Scheiß, den sie | |
verzapfen. Sogar wenn sie aufeinander einschlagen oder sich mit Raketen in | |
die Luft jagen, bilden sie eine Einheit. | |
Gegen Mitternacht, zurück am S-Bahnhof Köpenick, prügeln zwei von ihnen | |
betrunken aufeinander ein. Sie haben vergessen, dass sie denselben Schal | |
tragen. Die Frau des Einen steht festgefroren im Abseits: „Siggi, komm | |
bitte, er blutet schon!“ Siggi kommt, bringt Verstärkung mit und schnell | |
steht es 4 zu 1. Jetzt schlägt der Blutende, im Herdenschutz, auf den | |
Alleinstehenden ein. Bezeichnenderweise fallen ihm zur Schmähung des | |
Feindes nur weibliche Beleidigungen ein: „Du Fotze! Du Hure!“ Der | |
Alleinstehende trommelt sich auf die Brust: „Alleine! Ich bin alleine!“, | |
wankt zur Dönerbude und hebt einen Holztisch an. „Man, geh nach Hause, | |
alter“, ruft Siggi und ich folge seinem Rat. Zum zweiten Mal an diesem Tag | |
habe ich das Gefühl, genug gesehen zu haben. Meine Pläne, rauszuziehen in | |
die grüne Erholungsregion Köpenick, sind fürs Erste auf Eis gelegt. | |
7 Nov 2023 | |
## AUTOREN | |
Marielle Kreienborg | |
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