Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Abrisslandschaften, Wiederaufbaulandschaften
> Arwed Messmers Fotos erzählen von der frühen Nachwendezeit. Oft wird über
> die Neunziger im Osten so gesprochen, wie seine Bilder es zeigen: Als
> wären die Menschen aus dem Leben herausgetreten – anwesend, aber nicht
> dabei
Bild: Berlin-Mitte (Pariser Platz), 1995: Grundsteinlegung Hotel Adlon
Von Arwed Messmer (Fotos) und Daniel Schulz (Text)
Sieht man schon etwas? Sieht man noch etwas? Sieht man noch das Alte? Die
DDR? Sieht man schon das Neue? Die BRD? Also neu für den Osten
Deutschlands, damals nach 1989, nach der Revolution, dem Fall der Mauer.
Was sieht man da überhaupt? Am Anfang seines Bandes „Tiefenenttrümmerung.
Der Traum vom Reich“ zeigt der Fotograf Arwed Messmer noch Menschen. Zwei
Männer fahren einen Zug über grasbewachsene Schienen. Hinter ihnen schaut
eine blonde Frau in Uniform aus dem Fenster. Zwei Frauen an einem Tisch auf
einer Wiese. Ein Mann mit Bauabeiterhelm in der Nacht.
Diesen Bildern folgen großformatige Trümmerlandschaften, leere Häuser,
Wälder, in denen Schornsteine wachsen statt Bäumen. Und selbst wenn da
Menschen sind, sind da keine zu sehen: Auf einem Bild steht ein Motorrad
und auf dem liegt ein Helm, als hätte ihn da jemand eben abgelegt. Nur ist
da niemand.
Später werden die Fotos farbig und Menschen stehen in Abrisslandschaften,
die oft schon Wiederaufbaulandschaften sind. Auf den Bildern ist zu sehen,
wie Maschinen Ost-Berlin, die Hauptstadt der DDR, zertrümmern. Sie
zermahlen das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten, um dort
wiederherzustellen, was der Krieg zerstört und das sozialistische Regime
hatte abreißen lassen. Es sind Schlachtfelder der Restaurierung. Berlin, so
entschieden Politiker, sollte wieder aussehen wie ganz früher, wie vor den
Nazis.
Diese Bilder zeigen die neunziger Jahre in Ostdeutschland, größtenteils, es
gibt ein paar Ausreißer. Und diese Bilder zeigen diese Jahre vor 1989 so
wie viele Menschen in Ostdeutschland sie oft erzählen: detaillierte
Erinnerungen, [1][vor allem an den Alltag]. In den Erzählungen wird diese
Zeit heute öfter idealisiert, bereinigt von dem Stress in einem Land der
harten Arbeit, die die Menschen früh alt aussehen ließ, in dem die Eier
nach Fisch schmeckten, in dem Wohnungen knapp waren und man mit dem Zug
nach Süden durch den dunklen Rauch der Chemiewerke Leuna fuhr.
Über die [2][sogenannten Wendejahre] sprechen viele Ostdeutsche dagegen
anders, viel weniger bunt und in 3D. Sondern flacher, grauer,
skizzenhafter. Dass es Not gab, millionenfache Arbeitslosigkeit nach dem
Ende vieler Betriebe, ja, das wird natürlich gesagt, es wird sogar sehr
laut gesagt, das Wort „Treuhand“ wird vielleicht fast geschrien in solchen
Unterhaltungen. Aber dennoch wird über die Neunziger dann eben oft so
geredet wie sie die Bilder von Arwed Messmer zeigen. So, als wären die
Menschen aus dem Leben herausgetreten. Als wären sie zwar dort gewesen,
aber nicht dabei.
Manja Präkels, die Autorin von „[3][Als ich mit Hitler Schnapskirschen
aß“], hat gesagt, dass fast jeder, der die neunziger Jahre in
Ostdeutschland erlebt hat, einen Grund habe, sich für diese Zeit zu
schämen: Weil Menschen arbeitslos waren, weil sie nicht verhindern konnten,
dass sich Freunde umbrachten. Und weil sie Asylbewerberheime anzündeten.
Oder nichts dagegen taten, dabei zusahen. Heute nennen wir das die
Baseballschlägerjahre.
Obwohl – nicht „wir“. Einige von uns. Vor wenigen Wochen habe ich
Schüler:innen in Ostdeutschland aus meinem Roman vorgelesen, [4][einer
Geschichte in den Neunzigern]. Die meisten wussten nichts von dieser Zeit.
Nichts von Hoyerswerda 1991. Nichts von Rostock-Lichtenhagen 1992. Andere
Autor:innen erleben Ähnliches. Ihre Eltern haben den Schüler:innen
wenig erzählt. Viele, die die Neunziger erlebt haben, versuchen sie
auszuradieren.
Dabei könnte diese Zeit etwas zeigen von der Gegenwart. Etwa von dem
Versuch, Rechtsextreme zu bekämpfen, indem man ihren Forderungen nachgibt.
„Asylkompromiss“, hieß das damals. Olaf Scholz sagt heute: Wir müssen
endlich im großen Stil abschieben.
Auf Arwed Messmers Bildern ist das alles nicht zu sehen. Und ist es
zugleich doch.
4 Nov 2023
## LINKS
[1] /!5770632&SuchRahmen=Print
[2] /!5668392&SuchRahmen=Print
[3] /!5472977&SuchRahmen=Print
[4] /!5536453&SuchRahmen=Print
## AUTOREN
Daniel Schulz
## ARTIKEL ZUM THEMA
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.