# taz.de -- Auto-Frust und Aggressionen: Widerstehe deinem inneren Ingo | |
> Während um ihn herum die Barbaren rasen, ist Aron im Verkehrsalltag total | |
> verständnisvoll und dialogbemüht. Doch an einer Ampel ändert sich alles. | |
Bild: Autofahren ist nicht nur schlecht für die Umwelt, sondern kann auch den … | |
[1][taz FUTURZWEI] | Jetzt ist es passiert, denke ich. Ich bin auf einer | |
Landstraße im Harz und etwas in mir wird fürchterlich sauer, weil der | |
Fahrer des Autos vor mir zwei Sekunden lang vor einer grünen Ampel stand, | |
weshalb ich warten musste und reflexartig die Warnhupe betätigte. | |
Ich umklammere das Lenkrad. Was mache ich hier, denke ich noch und sehe wie | |
der Typ vor mir erst nach links abbiegt, dann nach rechts – ohne zu | |
blinken! | |
Ich schüttle den Kopf und stoße einen dieser zynischen Luftzüge durch meine | |
Nase, die sich sonst vor allem vor Anzeigetafeln der Deutschen Bahn in | |
Hauptbahnhöfen oder vor den Türen der S-Bahn am Bahnsteig Neukölln | |
verdichten. Von Menschen hastig eingeatmet werden sie zu Sätzen wie „Drecks | |
Bahn!“ oder „Vielleicht erstmal andere aussteigen lassen!“. In meinem Fall | |
entsteht der schlimme Satz: „Grüner wird’s nicht!“ | |
## Aggression macht unsexy | |
Sowas wollte ich doch nie machen. Leicht aggressives Autofahren finde ich | |
eigentlich nur bei Italiener:innen okay, weil es irgendwie cool wirkt: wenn | |
jemand die Arme über den Kopf schlägt und so sexy italienische Sachen | |
flucht, die vermutlich nur deswegen sexy klingen, weil ich kein Wort | |
Italienisch verstehe und die übersetzt vielleicht auch einfach „Jetzt fahr | |
doch mal, du Arschkrampe!“ bedeuten. | |
Eben das, was die ganzen Ingos brüllen, die unter lebensbedrohlichen | |
Manövern dicht an das Auto eines anderen heranfahren, ihren Blick bei 200 | |
Stundenkilometer auf dem Tacho so lange an das feindliche Fenster heften, | |
bis der erklärte Fahrdepp dahinter völlig verschreckt reagiert. Um sich | |
abzureagieren geht's dann mit kontinuierlicher Lichthupe für mindestens 100 | |
Kilometer auf der linken Spur auf der A2 Richtung Freiheit. Und zuhause | |
wird dann noch kurz auf Facebook ein schlecht bearbeitetes Anti-Ampel-Meme | |
mit roter Comic Sans Schrift geteilt. | |
## Der Road-Rage-Moment | |
Wenn ich jetzt nicht aufpasse, denke ich, bin ich nur noch einen Schritt | |
davon entfernt, genau so zu werden – und das wäre mal richtig unsexy. Es | |
muss sich also sofort etwas ändern. Als ich zuhause ankomme, google ich | |
meine Symptome und stoße auf einen Text über das Phänomen „Road Rage“ in | |
einem psychologischen Online-Lexikon. | |
Road Rage meint, vereinfacht gesagt, das Gefühl, wenn eine | |
Verkehrssituation Auslöser für Aggressionen wird. Einerseits können das | |
Situationen sein, in denen man – so wie ich – aus Wut dicht auffährt oder | |
ablenkend hupt. Andererseits entsteht Road Rage, wenn jemand abrupt im | |
Straßenverkehr bremst, weil ein anderer ihm z. B. die Vorfahrt genommen | |
hat, dann aber nicht mehr das entschuldigende Handzeichen des anderen | |
wahrnimmt, sondern bereits mit rotem Kopf vor dessen Motorhaube zum | |
Faustkampf bereitsteht. | |
Ich kenne diese Momente, denn Berlins Verkehr besteht praktisch | |
ausschließlich aus Road Rage. | |
Und seitdem ich in der Stadt ein Auto habe, gab es immer Road Rage – nur | |
ging sie bisher eigentlich nie von mir aus. | |
## Das Problem: mitgebrachter Ärger | |
Erst vor Kurzem ereignetes sich Folgendes: Es ist Abend, ich will ganz | |
harmlos aus meiner Straße in Neukölln heraus fahren und sehe, wie sich ein | |
Typ mit seinem Fahrrad vor mir aufbaut. Im ersten Moment freue ich mich | |
irgendwie sogar, im geschützten Wagen der Vernünftige zu sein. Also kurbele | |
ich die Scheibe runter und frage, ob ich helfen könne. | |
„Ich will hier durch, du Arsch!“ | |
„Aber das kann man doch auch nett sagen, oder?“, antworte ich. | |
„Das ist hier so in Berlin. Das versteht ihr scheiß Zugezogenen nicht", | |
brüllt er. „Ihr und eure …“ | |
Woher gleich diese Wut? Laut des Online-Lexikons entstehen | |
Road-Rage-Momente oftmals auch durch „mitgebrachten Ärger“. Vielleicht | |
hätte ich den Typen auf dem Fahrrad fragen sollen, was bei ihm eigentlich | |
los war, denke ich, als ich am nächsten Tag im ICE Richtung Berlin sitze. | |
## Zeit wird gegen Gesundheit ausgespielt | |
Vielleicht wäre ich dann auch besser mit meinem eigenen Rage-Moment | |
umgegangen. Oder ich wüsste, warum jemand wie ich zum Straßen-Ingo werden | |
kann, obwohl er doch nach eigener Beurteilung weit davon entfernt ist. | |
Ich war selbst im Zeitverzug, bekam von einem Terminpartner kein „Fahr‘ | |
vorsichtig“ sondern ein „Beeilen Sie sich!“ mit auf den Weg und konnte das | |
lahme Auto vor mir nur noch als direkten Angriff der kapitalistischen Welt | |
gegen mich verstehen. Vielleicht passiert das gerade im Verkehr, weil Zeit | |
gegen Gesundheit ausgespielt wird, denke ich. | |
Uber-Fahrer verdienen pauschal nach Kilometern – egal, wie lange sie | |
arbeiten. Amazon-Lieferanten müssen aus Mangel an bezahlten Pausen in | |
Flaschen pinkeln, die reizüberflutete Atmosphäre wird immer explosiver und | |
macht sicher vor keinem Berufsstand halt. | |
Kein Wunder, dass die zivilisiertesten Menschen mit „Baby on | |
board“-Stickern zu schimpfenden Raserbarbaren werden können und, dass mir | |
in meinem Kiez voller pazifistischer Ökos die Reifen zerstochen wurden – | |
die Nachbar:innen wollen klimafreundlich, aber auch schnell zur Arbeit und | |
mein Auto versperrte damals eine Leihfahrradstation. | |
## Was tun bevor es knallt? | |
Die Ungerechtigkeit des kapitalistischen Ellenbogendogmas trifft jeden – | |
und das täglich. Oft nur ganz leicht in der Seite, wie in einer überfüllten | |
U-Bahn. Das hält man dann ein paar Stationen aus, aber irgendwann knallt | |
es. Vermutlich ist das überall so. In Berlin sind die Menschen derzeit | |
durchschnittlich 19 Tage im Jahr krank, der bundesdeutsche Durchschnitt | |
liegt bei 18 Tagen. | |
Und das Gemeine an psychischen Erkrankungen ist ja, dass man das selten mit | |
Schnupfen oder Husten beweisen kann. Wenn Kassenpatient:innen allein in | |
Berlin sechs Monate auf einen Therapieplatz warten müssen, gilt es | |
aufzupassen, nicht plötzlich zum Ingo zu werden. | |
Und manchmal hilft es schon, weniger Auto zu fahren, denke ich. Dann reißt | |
mich eine Zugdurchsage aus den Gedanken: „Leider kommen wir ungeplant zum | |
Stehen …" | |
Es braucht gefühlt einen Wimpernschlag, dann hat mein Sitznachbar sein | |
Handy gezückt. | |
„Das ist ja typisch!“, schreit er in eine Sprachnachricht. „Ein Scheißla… | |
ist das, nichts weiter!“ | |
„Will noch jemand einen Kaffee?“, stottert ein Zugbegleiter neben uns. Ich | |
nicke. | |
„Das rettet meinen Tag!“, sage ich ein bisschen überfröhlich. | |
„Wissen Sie, wie schön es ist, das zu hören?“, antwortet der Zugbegleiter | |
und schenkt mir gleich zwei „DB-Lieblingsgastkekse“. | |
Einen für mich, einen für Ingo, denke ich, und gebe meinem immer noch | |
schimpfenden Sitznachbarn einen Keks. | |
Ich deute noch freundlich lächelnd auf das „Ruhebereich“-Schild im Abteil. | |
„Arschloch“, zischt er – aber dann ist Ruhe. | |
Die Kolumne „Stimme meiner Generation“ wird von der [2][taz Panter | |
Stiftung] gefördert. | |
12 Oct 2023 | |
## LINKS | |
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[2] /Vom-Wort-zur-Tat/!v=e4eb8635-98d1-4a5d-b035-a82efb835967/ | |
## AUTOREN | |
Aron Boks | |
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