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# taz.de -- Neben dem offenen Antisemitismus
> Julia Bernstein schärft mit ihrem Buch „Zerspiegelte Welten“ die
> Wahrnehmung von unbewusstem, implizitem Antisemitismus
Bild: Offen eine Kippa zu tragen, bedeutet Gefahr. – Merken Sie was?
Von Klaus Walter
Mauthausen, 1941. Eine Nachbarin des Konzentrationslagers wird Zeugin von
Erschießungen dort und schreibt einen Brief an ihre Gemeinde. „Ich bitte
darum, dafür zu sorgen, dass solche unmenschlichen Taten unterbleiben oder
an einem Ort geschehen, wo es niemand sieht.“ Sie sei kränklich „und ein
solcher Anblick strapaziert meine Nerven so sehr, dass ich das auf Dauer
nicht ertragen kann“.
Deutschland, 21. Jahrhundert, I.: Julia Bernstein im Gespräch mit einer
Bekannten, die sie als „sehr belesen und links eingestellt“
charakterisiert. „Julia, gestern musste ich an dich denken. Wir waren auf
dem Bauernhof und ich habe zum ersten Mal gesehen, wie die Hühner
geschlachtet werden, und das war so schlimm. Und ich musste dann an die
Juden denken, die im Holocaust ohne Grund umgebracht wurden.“
Deutschland, 21. Jahrhundert, II.: Julia Bernstein beim Arzt. Der
registriert ihren Namen und begrüßt die Patientin, die zum ersten Mal seine
Praxis aufsucht, mit den Worten: „Schön, dass Sie wieder zurück sind!“ Fr…
Bernstein, Jahrgang 1972, wundert sich und fragt: „Wie zurück?“ Darauf der
Arzt: „Na ja, nach dem Krieg. Bernstein ist ja ein schöner
jüdisch-deutscher Name, nicht wahr?“
Deutschland, 21. Jahrhundert, III.: Julia Bernstein beim Zahnarzt. Sie ist
zum ersten Mal in seiner Praxis und entnimmt den Urkunden an der Wand
seinen Vornamen: Adolf. Als der Zahnarzt, „ein älterer Herr“, wiederum den
Namen seiner neuen Patientin hört, versucht er, „den Elefanten im Raum
anzusprechen: ‚Es irritiert Sie bestimmt, mein Vorname. Früher war es ein
üblicher Name und mein Vater war auch übrigens im Widerstand.‘ Zu diesem
Zeitpunkt war ich seit einem Jahr in Deutschland. Ich habe ihm das
geglaubt, öffnete den Mund für die Behandlung und unterdrückte das mulmige
Gefühl, meine Gesundheit einem Adolf anzuvertrauen.“
Diese vier Episoden aus Julia Bernsteins Buch „Zerspiegelte Welten –
Antisemitismus und Sprache aus jüdischer Perspektive“ sind so breit
gefächert, so abseitig auch, dass man sie als charakteristisch für einen
Antisemitismus bezeichnen kann, der in Zeiten von AfD und Aiwanger wenig
Beachtung findet, weil es ihm an Eindeutigkeit fehlt.
Viele würden den antisemitischen Charakter der Äußerungen gar bestreiten.
Denn hier ist kein offener, erklärter Antisemitismus am Werk, hier sprechen
keine bekennenden Judenhasser:innen, im Gegenteil. Hier versuchen sich
nichtjüdische Deutsche in Verständnis und Empathie, indem sie ihre ganz
persönliche Betroffenheit zum Ausdruck bringen.
Mit ihren bizarren Moves treten sie zwar nicht in eine Opferkonkurrenz,
deren populärster Refrain sich endlos wiederholt: Die Juden/Israelis machen
heute mit den Palästinensern dasselbe wie damals die Deutschen mit den
Juden. Jedoch pflegen Bernsteins Protagonist:innen eine paradoxe,
egozentrische, verquere, man könnte mit dem Buchtitel sagen „zerspiegelte“
Opfersolidarität, indem sie die Tragödie der Shoah auf ihre eigene kleine
Farce zurückspiegeln: Diese reflexhaft mobilisierbare persönliche
Betroffenheit verstellt den Blick auf die Realität der Opfer und ihrer
Nachkommen. Sie dient der Selbstentlastung, wenn nicht gleich der
Schuldabwehr. Mit Erfahrungen dieser Art schärft die Autorin die
Wahrnehmung für zerspiegelte Welten, auch für Zerrbilder, die sich „zu
Feindbildern verdichtet haben“.
Im Jahr 1972 in der damaligen Sowjetrepublik Ukraine geboren, studierte
Julia Bernstein in Haifa und promovierte über russischsprachige Migranten
in Israel und Deutschland, wo sie seit 2007 lebt und lehrt.
„Jüdische Mitbürger“, das ist eine dieser verschwiemelten
Höflichkeitsfloskeln, zu denen Deutsche gerne greifen. „Es scheint, als
würde die Präsenz von Jüdinnen oder Juden diese Menschen in eine Art
Hilflosigkeit und Überforderung stoßen, bei ihnen für Anspannung sorgen
oder die Angst wecken, etwas Falsches oder Unangemessenes zu sagen.
Metaphorisch werden Jüdinnen und Juden in solchen Situationen zu einem
Spiegel, in den zu schauen bei vielen Menschen einen Mix aus
Schuldgefühlen, Entlastungswünschen und Aggression und damit großes
Unbehagen wie auch ausgeprägte Unsicherheit hervorruft.“Julia Bernsteins
Buch zeigt, dass es weiter gute Gründe gibt, verkrampft zu sein, weil es in
Deutschland nicht nur einen verbreiteten expliziten, also psychisch wie
politisch intentionalen Antisemitismus gibt, sondern eben auch einen
verschwiemelten, impliziten, unbewussten Antisemitismus.
14 Oct 2023
## AUTOREN
Klaus Walter
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