# taz.de -- Die Saat des Kolonialismus | |
> In Wolfsburgs Kunstmuseum haben Pflanzenschmuggel, Imperialismus und | |
> vegetabile Migration Einzug gehalten: Sie bilden den Nährboden der Kunst | |
> von Kapwani Kiwanga | |
Bild: Subversiver Reis: Kapwani Kiwanga lässt für die Installation „Oryza�… | |
Von Bettina Maria Brosowsky | |
Etwas Interesse an Kolonialbotanik sollten die Besucher:innen | |
mitbringen, wenn sie sich auf die Wolfsburger Ausstellung „Die Länge des | |
Horizonts“ einlassen: Kolonisation, vegetabile Migration und die | |
anhaltenden Folgen für Zivilisation und Natur sind ein zentrales Thema der | |
Präsentation von Kapwani Kiwanga. Die Zusammenhänge und Verstrickungen, die | |
von der kanadischen Künstlerin aufgegriffen werden, kristallisieren sich in | |
historischen Figuren wie dem Pflanzenjäger, englisch Plant Hunter. | |
Der war in der Regel männlich, und sicherlich unterlag seine Tätigkeit | |
keinem offiziellen Berufsprofil. Seine Aktivitäten jedoch entfalteten nicht | |
erst während des britischen Empire eine weltumspannende, ökologische wie | |
ökonomische Wirkung. Viele Kulturpflanzen, seien sie Nahrungs- und | |
Genussmittel, Heil- oder Arzneiwirkstoffe, Rohmaterialien der Textil- und | |
Industrieproduktion, aber auch die botanischen Schätze englischen | |
Gartenenthusiasmus’sind ursprünglich in ganz anderen Weltenregionen | |
beheimatet gewesen, als ihre heutigen Anbauregionen vermuten lassen. | |
Die Briten brachten etwa den Tee aus China in ihre Kolonien Indien und | |
Ceylon, heute Sri Lanka, die Baumwolle aus Indien zum großflächigen, auf | |
Sklavenarbeit basierenden Anbau in die Südstaaten Amerikas, oder den | |
Kautschuk, Ausgangsmaterial für Gummiprodukte oder Fahrzeugreifen, aus | |
Brasilien auf die malaiische Halbinsel und wiederum Ceylon. | |
Diese Transfers gingen selten legal vonstatten: Vor allem durch | |
Pflanzenpiraterie und -schmuggel gelangten erst Ableger oder Saatgut in die | |
Obhut der Botaniker der königlichen Gewächshäuser von Kew Gardens in | |
London. Dort wurde es vermehrt, um anschließend in transportablen | |
Kleingewächshäusern, dem Ward’schen Kasten, in die neue Heimat verschifft | |
zu werden. So glückte es um 1900, große Kautschukplantagen in Südostasien | |
zu kultivieren. Ein Handelsmonopol, nun Brasiliens, war gebrochen – die | |
wirtschaftliche Absicht der Pflanzenjagd. | |
Kiwanga greift oft in Werkstoffen und Arrangements diesen geschichtlichen | |
Hintergrund auf, ohne ihn explizit zu machen und ohne sich in die Schublade | |
postkolonialer Diskurse einsortieren zu lassen: Man kann sich auch einzig | |
auf den Genuss ihrer hochästhetischen Werke beschränken, besonders wenn sie | |
mit Pflanzen operieren. Da wären etwa das eindrucksvolle Portal aus üppigem | |
Laubwerk sowie vier edle Blumenarrangements. | |
Schön anzusehen das alles. Allerdings will die offene Reihe „Flowers for | |
Africa“ auf bedeutsame Daten hinweisen. So schmückte ein derartiger grüner | |
Bogen die Feierlichkeiten zur Unabhängigkeit Rwandas, bis 1916 deutsche | |
Kolonie, später Mandatsgebiet des Völkerbunds und der Vereinten Nationen. | |
Ähnliche Festakte begleiteten die Blumengestecke: 1961 in Tanganyika, 1962 | |
in Algerien, 1990 in Namibia. Sie sind freie Rekonstruktionen, von einer | |
lokalen Floristin nach Protokollen der Künstlerin gefertigt, die sich auf | |
Fotografien der Zeremonien stützt. In jeder Ausstellung anders | |
zusammengestellt, erinnern die Gestecke an die vielfältigen Wege zur | |
Unabhängigkeit aus kolonialer oder sonstiger Abhängigkeit, zeigen einen | |
Moment der Blüte und versinnbildlichen zugleich deren Vergänglichkeit. | |
Es gab aber auch die subversive Verschleppung von Agrarpflanzen. Darauf | |
verweisen gleich zwei Arbeiten: die Hydrokultur Oryza, zu Deutsch Reis, | |
sowie die große Bodenarbeit Semence, Saatgut. Was wie eine minimalistische | |
Malerei anmutet, sind jeweils sieben in Keramik nachgebildete Reiskörner | |
einer westafrikanischen Sorte, in exaktem Abstand zu kleinen Gruppen | |
zusammengeschoben. Sklavinnen sollen Reiskörner in den Nordosten | |
Südamerikas eingeschmuggelt haben, versteckt in ihr Haargeflecht. In | |
Suriname baut die Gemeinschaft der Maroons, die sich der Sklaverei in den | |
britischen, französischen und niederländischen Kolonien widersetzen | |
konnten, die Reissorte noch immer an. Den mickrigen Reispflänzchen der | |
Installation, aufgekeimt an der Leibniz Universität Hannover, mag man nur | |
ein imposantes Wachstum in ihrem artifiziellen Habitat im Museum wünschen. | |
Auf den deutschen Pflanzenjäger, Agrarwissenschaftler und Tropenbotaniker | |
Richard Hindorf (1863–1954) geht der Anbau von Sisal in Tansania zurück. | |
Diese Pflanze, eine Agavenart, stammt aus Mexiko, Hindorf brachte sie in | |
den Süden Afrikas, trieb ihre Plantagenbewirtschaftung voran und legte so | |
eine wirtschaftliche Basis der Region. Kiwanga widmet diesem | |
Migrationsphänomen zwei große Stahlgestelle, behängt mit unverarbeitetem | |
Sisal, ähnlich den traditionellen Trocknungsvorrichtungen. | |
Kapwani Kiwanga, 1978 in der kanadischen Provinz Ontario geboren, hat | |
Anthropologie und Vergleichende Religionswissenschaften in Montreal | |
studiert. Bevor sie sich in Paris künstlerisch weiterbildete, hatte sie als | |
Dokumentarfilmerin fürs britische Fernsehen gearbeitet. | |
Sie kann mittlerweile prominente Ausstellungen und Preise vorweisen und | |
wird 2024 den kanadischen Pavillon auf der 60. Kunstbiennale Venedig | |
bespielen. Kuratorin Uta Ruhkamp war durch ihre Recherchen zum Wolfsburger | |
Frauen-Kunst-Projekt „Empowerment“ auf Kiwanga aufmerksam geworden und hat | |
sie nun in die große Halle zur sogenannten „Mid-Career-Retrospektive“ | |
eingeladen. Die wird im Anschluss nach Kopenhagen gehen. 61 Werke aus einer | |
Schaffensphase von 2009 bis 2023 gestatten den Einblick in ein sehr weites, | |
wissenschaftlich basiertes künstlerisches Spektrum. Im Fokus besonders: | |
subtile Strukturen der Macht, etwa der Disziplinierung durch Architektur, | |
Farbe und Licht. | |
Ein Überwältigungserlebnis bereitet gleich der Zutritt zur Ausstellung: Der | |
16 Meter lange Lichttunnel „pink-blue“. Er bedient sich sowohl der, | |
durchaus angezweifelten, aggressionshemmenden, gar blutdrucksenkenden | |
Wirkung eines intensiven Rosa als auch eines fluoreszierenden Blau, das, in | |
öffentlichen Toiletten oder Unterführungen eingesetzt, Junkies das | |
Auffinden ihrer Venen erschweren soll. Dies sei eine ihrer autoritativeren | |
Arbeiten, so Kiwanga. | |
Ausstellung: Kapwani Kiwanga. Die Länge des Horizonts, Kunstmuseum | |
Wolfsburg. Läuft bis zum 7. Januar 2024 | |
23 Oct 2023 | |
## AUTOREN | |
Bettina Maria Brosowsky | |
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