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# taz.de -- Ausgehen und rumstehenvon Marielle Kreienborg: Schon während des S…
Er habe sich immer gewundert, wie selten Arbeit als Gegenstand in der
Literatur auftauchte, obwohl die meisten Menschen doch den Großteil ihres
Lebens mit Arbeit verbrächten, erzählt der britische Autor Jem Calder im
Garten der Ullstein-Buchverlage: „Es war komisch, entweder die Figuren
hatten ständig frei, trafen sich abends, oder man wusste überhaupt nicht,
wie sie zu Geld kamen.“
Calder, der während des Schreibens seiner Kurzgeschichten-Sammlung
„Belohnungssystem“ selbst Vollzeit arbeitete, wollte es deswegen anders
machen: „Mich interessiert, die Sachen so zu beschreiben, wie wir sie alle
erleben, aber nie lesen.“ Deswegen gingen seine Figuren auch aufs Klo.
Was denn sein schlimmster Job gewesen sei, fragt ihn Moderatorin Milena
Adams: „Call-Center-Agent für VW während des Abgasskandals. Pausenlos
riefen Kunden an, und VW weigerte sich, Auskunft zu geben.“ Und in einer
Küche habe er auch gearbeitet? Oder wie sonst schriebe sich eine Geschichte
wie „Ein Restaurant irgendwo anders“? Beschreibungen nicht geistiger Arbeit
faszinieren das Bildungsbürger*innen-Publikum: besonders, weil es nach der
Lektüre auf Seite der Bedienten bleiben kann.
Das sei in der Tat ein Vorteil, sinniert Calder. Autor*innen könnten
Behauptungsmaschinen sein und sich mit einem ‚Zumindest sieht Nick Dwyer
das so‘ bequem hinter ihren Figuren verstecken. Tatsächlich scheinen Autor
und Figuren manches gemein zu haben: Calder rudert, wie seine
Protagonist*innen, jedes Mal blitzschnell zurück, wenn ihm zwischen Formeln
gut eingeübter Diplomatie doch mal eine entwaffnend ehrliche Antwort
entfährt.
Einzig die Frage nach dem ersten und letzten Satz von „Belohnungssystem“
lockt ihn aus der emotionalen Reserve: „Das ist eine gute Frage – ich freue
mich, dass dir die Rahmung aufgefallen ist! Der letzte Satz ist meiner
Meinung nach der beste im Buch. Und für den ersten habe ich zwei Wochen
gebraucht. Soll ich ihn vorlesen?“ Er tut es: „Zu Beginn eines Dezembers,
siebenundfünfzig Ernten vor dem von der Welternährungsorganisation
prognostizieren Anbruch der Ära völliger, weltweiter Bodenunfruchtbarkeit,
bekam Julia die Stelle im ‚Cascine‘.“ Doch, wie oft bei großem Hype fäl…
die Reaktion des Publikums auf den Satz dann verhalten aus. Vielleicht weil
man ihm seine Bearbeitung anmerkt. Vielleicht weil Menschen im Parkett zu
Menschen auf Bühnen gerade wegen ihres vermeintlich leichthändigen Genies
und nicht für die explizite Entblößung der eigenen Menschlichkeit
aufschauen.
Vielleicht hätte Calder besser daran getan, die „unbeschwerte Light-Version
von sich“ nicht mit Elementen seiner „wirklichen Persönlichkeit“ zu
befüllen. Die intellektuelle Coolness abzulegen und sich weit aus dem
emotionalen Fenster zu lehnen muss erst noch zur Praktik werden. Calder
räuspert sich, zieht sein Cappy tiefer ins Gesicht und erringt souveräne
Autonomie zurück. Fortan initiiert er in Momenten des Zögerns einfach
selbst den Applaus.
Ganz am Schluss, als eine Dame im Publikum die Hoffnung auf ein Happy End
für kalkulierte, durchalgorithmisierte Individuen nicht aufgeben will – „Es
ist doch ganz klar auch eine Liebesgeschichte!“ –, lässt Calder sich als
Autor abermals zu einer riskanten, weil persönlichen Aussage hinreißen: Ja,
vielleicht sei der Subtext all dieser Entfremdungs-, Isolations- und
Einsamkeitsgeschichten am Ende tatsächlich. „dass wir im Grunde alle
einfach nur geliebt werden wollen“.
„Ooooooooooh!“, zirpt es durch den Ullstein-Garten. Calder, vom
öffentlichen Eingeständnis der eigenen Bedürftigkeit betreten, sucht die
Löschtaste beim Sprechen: „Gott, wie kitschig. Streicht diesen Satz. Bitte.
Vergesst, was ich gesagt habe.“
10 Oct 2023
## AUTOREN
Marielle Kreienborg
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