# taz.de -- Harald Welzer über eine neue Kultur: It's the Culture, Ökos! | |
> Kultur ist nicht irgendwas mit Ausstellungen und Musik. Die fossile | |
> Kultur steckt in jeder Faser unserer Selbst- und Weltwahrnehmung. Wir | |
> müssen sie verlernen. | |
Bild: Kultur | |
[1][taz FUTURZWEI] | Ich fang mal mit ein bisschen Theorie an, wird aber | |
nicht lang. Kultur ist nicht »irgendwas mit Ausstellungen oder Musik«, | |
Kultur ist das Spezifikum der menschlichen Lebensform. Denn diese | |
merkwürdige Spezies Mensch, die sich nach evolutionären oder | |
erdsystemischen Maßstäben möglicherweise nicht allzu lange auf der Erde | |
aufgehalten haben wird, hat ja neben der Natur einen zweiten Raum für ihr | |
Dasein geschaffen: Menschen können miteinander sprechen, sich wechselseitig | |
auf etwas aufmerksam machen, haben jede Menge Techniken und Wissenschaften | |
entwickelt, Traditionen gebildet und noch vieles mehr, was andere Tiere | |
nicht haben und machen. Jedes Neugeborene steigt in die Welt ein, die seine | |
Vorgängerinnen und Vorgänger entwickelt haben, setzt also auf dem | |
kulturellen Niveau an, das die Geschichte vor ihm bereitstellt. | |
Der Evolutionsanthropologe Michael Tomasello nennt das den | |
»Wagenhebereffekt«: Zwar entwickeln auch manche Gruppen von Tieren | |
Kulturtechniken – zum Beispiel benutzen einige (weibliche) Delfine | |
Schwämme, die sie sich auf ihre Schnäbel stülpen, damit sie sich beim | |
Absuchen des Meeresbodens nicht verletzen. Aber solche kreativen Leistungen | |
werden nicht an die kommenden Generationen, geschweige denn an die gesamte | |
Spezies weitergegeben, sondern verschwinden mit den besonders kreativen | |
Individuen wieder. Anders bei den Menschen: Dort rutscht der Wagenheber | |
nicht wieder nach unten, sondern rastet ein und wird von der nächsten | |
Generation dann auf eine neue Ebene gehievt. Das ist Kultur, und sie sorgt | |
dafür, dass Menschen in einer koevolutionären Entwicklungsumwelt leben – | |
Natur und Kultur bilden beide die Ausgangsbedingungen für ihr künftiges | |
Leben und ihre künftigen Entwicklungsmöglichkeiten. | |
Das ist eigentlich super, hat aber den Haken, dass der Wagenheber auch mal | |
an einer Stelle einrastet, die unter Überlebensgesichtspunkten nicht so | |
vorteilhaft ist: Wenn etwa eine fossile Kultur entstanden ist, die sich | |
über einige Generationen als vorteilhaft in Sachen Wohlstand, Gesundheit, | |
Bildung und so weiter erweist, prägt diese Kultur dann auch die | |
Vorstellungen, Mentalitäten, Ideale, Psychen, Lebensformen, | |
Geschäftsmodelle, Beziehungsformen und so weiter, und wenn dann die | |
Koevolution so etwas wie die FDP hervorgebracht hat, steht es um das | |
langfristige Überleben der Menschen schlecht. Das nennt man | |
Pfadabhängigkeit, und in der stecken wir jetzt: in einer Klemme, die durch | |
die Folgen von ein paar Jahrzehnten neoliberaler Formatierung der Welt auf | |
der einen Seite und den Folgen von Klimawandel und Artensterben auf der | |
anderen Seite definiert ist. | |
Deshalb denkt und greift man viel zu kurz, wenn man glaubt, dass das | |
Desaster, das nicht vor uns liegt, sondern in dem wir uns bereits befinden, | |
durch Steigerung des Mitteleinsatzes – Mehr Windräder! Mehr E-Autos! Mehr | |
BIP! Mehr Nachhaltigkeitskonferenzen! – gelöst werden könnte. Wenn Elon | |
Musk, die letzte Ikone unseres untergehenden Kulturmodells, jetzt eine | |
Million Autos pro Jahr in Brandenburg bauen wird, dann sind das noch einmal | |
eine Million Autos mehr pro Jahr zu viel. Dass viele Leute glauben, dass | |
diese Autos gut für das Überleben der Menschheit wären, und besonders | |
Landespolitiker von erotischen Gefühlen im Angesicht all der | |
Gigainvestitionen überfallen werden, ist leider nur der Beleg dafür, wie | |
sich die fossil geprägte Idee in die Mentalitäten gefressen hat. Bis hin zu | |
der bizarren Vorstellung, dass man Probleme, die durch Übernutzung unserer | |
naturalen Lebensbedingungen entstanden sind, durch Steigerung dieser | |
Übernutzung lösen könne. Das Ergebnis solcher Vorstellungen sind | |
LNG-Terminals auf Rügen, die Zerstörung der Welt durch die Absicht, sie zu | |
retten. Mit anderen Worten: Der Wagenhebereffekt kann auch tödlich sein. | |
Mitunter muss man auch mal den Rückwärtsgang einlegen. | |
## Kultur ist Geist | |
Haha, schon solche Begriffe zeigen, dass die fossile Kultur nichts | |
Äußerliches ist, sondern in jede Faser unserer Selbst- und Weltwahrnehmung | |
eingedrungen sind, also anleiten, wie wir die Welt sehen und was überhaupt | |
von ihr. Culture is the mind! Und so betrachtet ist es eine fossilkulturell | |
entstandene Verkürzung zu glauben, dass Wissenschaft, Technik, die richtige | |
Steuerung von Kapital und am besten noch die überbewertete KI uns schon aus | |
dem Schlamassel herausführen würden. Nein, denn die evolutionäre Aufgabe | |
lautet erstmal: ein Trainingsprogramm zu entwickeln, dass einem beim | |
Verlernen des Falschen hilft. Denn wir werden, besonders seit es die | |
digitalen Konzerne und ihre ganz und gar überlebensfeindlichen | |
Geschäftsmodelle gibt, 24/7 darauf trainiert, Dinge haben zu wollen, die | |
uns bei dem Wunsch im Wege stehen, noch ein paar Generationen in einer | |
enkeltauglichen Welt zu leben. | |
Eine Entfossilisierungsgymnastik ist ein kulturelles Projekt zur | |
Wiederherstellung des Zusammenhangs der kulturellen, der ökonomischen und | |
der ökologischen Praxis. Dabei geht es nicht um das Wahre, Schöne und Gute | |
als Wahres, Schönes und Gutes, sondern es geht um das Weltverhältnis, das | |
man als humanes Lebewesen überaus sensibel einüben muss, wenn es | |
weitergehen soll. In diesem Weltverhältnis spielen seltsame, weil gar nicht | |
so einfach in Geld verwandelbare Kategorien wie … Resonanz … Schönheit … | |
Vertrauen … Verbundenheit … die wichtigen Rollen. Genauso wie das schlichte | |
Bewusstsein, dass wir als Tiere nicht außerhalb der Naturverhältnisse | |
stehen, sondern immer in ihnen. Das heißt: Die sozialökologische | |
Transformation ist die umfassende Veränderung der koevolutionären | |
Rahmenbedingungen, in denen die menschliche Lebensform dann weitermachen | |
kann: also die kulturelle Transformation. | |
Unter den gegebenen Bedingungen wird die Menschheit, das betrifft | |
jedenfalls die meisten ihrer Einzelexemplare, ziemlich bald abdanken, und | |
das liegt auch daran, dass die Transformationstheorien und -praktiken eine | |
starke natur- und technikwissenschaftliche Schlagseite haben und | |
menschenwissenschaftlich naiv sind. Nur wenn wir den ökopolitischen | |
Handlungsraum als kulturellen Raum verstehen und uns weit mehr Aspekten des | |
Daseins zuwenden als Treibhausgasmolekülen und Nettoumweltnutzen, betrifft | |
die notwendige Transformation die menschliche Welt. Und nur dann kann sie | |
auch ein Versprechen statt einer Drohung sein. | |
It’s the culture, Ökos! | |
Harald Welzer ist Herausgeber von taz FUTURZWEI. | |
Dieser Beitrag ist im September 2023 im Magazin [2][taz FUTURZWEI N°26] | |
erschienen. | |
7 Sep 2023 | |
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## AUTOREN | |
Harald Welzer | |
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