# taz.de -- ungeliebt: Der Klang verblasster Leidenschaft | |
Zugegeben, Konzerte klassischer Musik haben bereits durchs Setting einen | |
Hang zu Langeweile. Und möglicherweise sagt das ja auch etwas über das | |
Publikum: Vielleicht mag sich ja langweilen, wer gerne in der Glocke, einem | |
Bremer Konzertsaal, in ungemütlicher Kleidung auf nicht-ergonomischen | |
Klappsesseln zwei Stunden stillsitzt. Die Bremer Philharmoniker scheinen | |
dieser Vermutung anzuhängen. Jedenfalls bauen sie für das Programm ihres | |
Saisonauftakts auf genau diese Neigung. | |
In diesem Sinne haben sie zunächst das abgedroschenste Schlagwort gewählt, | |
unter dem sich Musik bündeln lässt: „Liebe“. Sie grenzen die konzeptionel… | |
Ausgestaltung dieses Kommunikationsmittels zudem durch eine historische | |
Beschränkung auf die Zeit von 1859 bis 1912 auf die geläufigste ein, | |
nämlich die strikt heteronormierte, romantische Liebe. Und zu allem | |
Unterfluss handelt es sich bei allen Werken, die von der Combo unter | |
Anleitung ihres Stabträgers Marko Letonja am Sonntag und am Montag in | |
Schall verwandelt werden sollen, ausschließlich um männliche | |
Geistesergüsse. | |
Sprich: Das Landesvorzeigeorchester spielt Altbekanntes in | |
mutlos-unorigineller Zusammenstellung und freut sich sogar darüber, dass | |
selbst die neueste der ausgewählten Kompositionen längst „zu einem festen | |
Bestandteil des symphonischen Repertoires“ geworden sei. In eine Botschaft | |
ans Publikum übersetzt bedeutet ein solches Programm: Wir haben uns mal | |
keine Mühe gemacht, sondern nur das absolut Naheliegendste einstudiert. Das | |
minimiert das Risiko und auch den Aufwand. Mehr seid ihr uns halt einfach | |
nicht wert. | |
Nun kann es auch andere Gründe geben dafür, dass ein Orchester sich auf | |
Musik des 19. Jahrhunderts zurückzieht. Vielleicht reichen die technischen | |
Fertigkeiten nicht für Gegenwärtigeres. Vielleicht fehlt dem Dirigenten die | |
Kompetenz für Werke, in denen ein Wissen von der Musik jenseits tonikaler | |
Bindung mitschwingt. Und möglicherweise ist man gedanklich auch einfach | |
nicht helle genug, sich so etwas wie „Liebe“ jenseits einer | |
Boy-meets-Girl-Story vorzustellen. Es wäre falsch und schade, daraus ein | |
Konzertverbot abzuleiten. | |
Aber sogar einem verblödeten Klangkörper darf abverlangt werden, die in den | |
aufgeführten Werken thematisierte menschliche Mehrgeschlechtlichkeit als | |
Auftrag zu begreifen, auch die Perspektiven auf Klänge und Harmonien zu | |
multiplizieren. Klingen Louise Bertins Liebesdramen auf spezifische Weise | |
anders als die von Gabriel Fauré? Ist die inzestuöse Dimension des | |
musikalischen Dialogs von Fanny Hensel und Felix Mendelssohn nicht | |
bewegender als Wagners Judenhass-Musik? Steckt in Louise Farrencs Symphonik | |
oder, um einschlägiger beim Thema zu bleiben, in Augusta Holmès | |
Orchesterdichtungen nicht ebenso viel Leidenschaft wie in Maurice Ravels | |
Ballett? | |
Kriegen die Bremer*innen nicht zu hören. Die sollen sich gefälligst mit | |
dem begnügen, was sie schon kennen und wahrscheinlich im CD-Regal rumstehen | |
haben. Und jede Wette, dass sie sich das bieten lassen werden. Bloß sollten | |
sie dabei nicht glauben, das wäre Kultur. Es ist die stumpfe Reproduktion | |
eines patriarchalen und durchs Thema auch sexistischen Kanons. Der ist | |
langweilig. Und zu viel Langeweile tötet. Benno Schirrmeister | |
21 Sep 2023 | |
## AUTOREN | |
Benno Schirrmeister | |
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