# taz.de -- Auch Quark ist manchmal nur ein schöner Traum | |
> Einblicke in ihr wildes Nachtleben gewährt die Hamburger Comic-Künstlerin | |
> Jul Gordon mit ihrem neuesten Werk. „Der Frischkäse ist im ersten Stock“ | |
> ist ein gezeichnetes Traumtagebuch | |
Bild: Im Herbst stellt sich die Frage, wie viel Sherry ins Morphium gehört | |
Von Imke Staats | |
Jul Gordon zeichnet auf eine sehr ursprüngliche Art schwer darstellbare | |
Zustände. In ihrem letzten Buch hält sie etwas fest, was eigentlich schon | |
verschwunden ist und wofür es keine Beweise gibt: Sie hat ein | |
zeichnerisches Tagebuch ihrer allnächtlichen Träume geführt. „Der | |
Frischkäse ist im ersten Stock“ heißt es, und der Titel deutet bereits auf | |
ein Einkaufserlebnis hin, welches sie während der alltagsverkomplizierenden | |
Coronazeiten zu einem verwirrenden Erlebnis ausgeträumt hat. | |
Jul Gordon stammt aus Lüneburg. Schon als Teenager begeisterte sie sich für | |
die Comics der kanadischen Künstlerin Julie Doucet, die als eine | |
Comic-Pionierin individuell über persönliche Alltagserlebnisse erzählte. In | |
Deutschland erschienen ihre „Wahren Haushaltscomics“ und die beiden | |
„Schnitte“-Bände mit kurzen Comic-Geschichten ab Mitte der 1990er-Jahre bei | |
Reprodukt. | |
Gordon studierte dann Illustration in Hamburg, bei Anke Feuchtenberger, | |
einer der Begründerinnen des feministischen Comics in Deutschland, an der | |
Hochschule für angewandte Wissenschaften. Den Einstieg in das Genre aber | |
hat der Berliner Künstler Atak verursacht. Der hatte in Hamburg einen | |
Lehrauftrag, als Gordon dort studierte. Auch bestärkte ihre damalige | |
Kommilitonin, Gosia Machon, Jul Gordon auf ihrem Weg, konkreter „bei meiner | |
ruppigen und, wie sie es genannt hat, respektlosen Art der Zeichnung zu | |
bleiben“. | |
Mit der und mit Themen aus dem echten Leben, besonders von Frauen, sowie | |
dank eines relativ hohen Outputs überzeugt sie HerausgeberInnen, | |
VeranstalterInnen und KollegInnen. Denn Gordon präsentiert ihre Arbeiten | |
auch immer wieder in Gruppen, performativ oder im Kontext mit Musik, meist | |
in Hamburg, mitunter auch woanders, in Berlin oder Wien zum Beispiel. Oder | |
auf Youtube, also überall. Zudem ist sie aktiv am Aufbau einer | |
Comic-Gewerkschaft beteiligt, die für bessere Bedingungen in dieser Branche | |
kämpft. Auch so ein Traum. | |
Träumen widmet sich Jul Gordon regelmäßig mit ihrer Comic-Kunst: Der neue | |
Band ist bereits die dritte Publikation, in dem die Zeichnerin aus diesem | |
Reservoir schöpft. Zuvor hatte sie in „Are you awake?“ aus dieser ewig | |
sprudelnden Themenquelle die Vorstellung eines jenseits des eigenen Körpers | |
lebenden und begehrenden Alter Ego geschöpft und zu einer Geschichte | |
verdichtet. Wie alle Träumenden wissen, haben Träume die Eigenschaft, aus | |
unserem tiefsten Inneren zu stammen und uns gleichzeitig fremd vorzukommen. | |
Diesen Zwist gestaltet Jul Gordon in ihrem „Frischkäse“-Comic mithilfe der | |
Dokumentation ihrer rein mentalen Schlaf-Erlebnisse. Die einzelnen Episoden | |
sind, wie bei einem Traumtagebuch üblich, datiert: Sie stammen aus der Zeit | |
zwischen April 2021 und Januar 2023. | |
Gordon macht das in einem sehr persönlichen Stil – nicht ordentlich, | |
sondern à la prima, direkt aus den Eindrücken heraus nach dem Aufwachen, | |
weswegen sie sich diszipliniert immer sofort an den Zeichentisch gezwungen | |
hat. Sie arbeitet analog mit Stift und Papier, an einigen Stellen hat sie | |
später noch Flächen gefüllt, wodurch sich Kontraste besser abheben. | |
Außer dem tiefen Königsblau, das im Siebdruck-ähnlichen Verfahren der | |
Risografie aufgebracht wurde, spielen Farben keine Rolle. Das Buch ist im | |
Verlag Edition Moderne erscheinen, in einer Reihe, die nach dem Berliner | |
Risoprint-Atelier „Colorama“ benannt ist, mit dem er für sie kooperiert. | |
Eine englische Ausgabe ist in Vorbereitung und soll im Herbst erscheinen. | |
Gordons Figuren sind reduziert, aber ausdrucksstark und oft auf eine tolle | |
Art komisch bis drastisch. Manche scheinen aber auch den Schrecken | |
wiederzugeben, der sie während der Traumphase ergriffen haben muss und der | |
nach dem Erwachen noch einige Zeit nachhallt. Dabei ist der Grat zwischen | |
Grusel und Lächerlichkeit schmal. Die Linien werden nicht geklärt, sie | |
tanzen. Da hilft es, dass die Autorin Proportionen und räumliche | |
Darstellung gut beherrscht. So ist leicht zu erkennen, dass dieselben | |
Personen wiederholt auftauchen, sie selbst – und zwar ohne Anspruch an eine | |
fotografische Ähnlichkeit –, das Kind, FreundInnen aus dem persönlichen | |
Umfeld und dazu Figuren des öffentlichen Lebens. Plus eine ganze Menge | |
Tiere. | |
Auf diese Weise vermengen sich gesellschaftliche Ereignisse zwang- und | |
übergangslos mit persönlichen Erlebnissen. In Gordons durchschnittlich acht | |
Stunden Schlaf kann viel passieren. Es tauchen zum Beispiel die tote | |
Dichterin Ingeborg Bachmann, die sehr lebendige Autorin Margarete Stokowski | |
und ein Typ auf, der vielleicht Dieter Bohlen sein könnte. Er blamiert | |
sich, als er einem von Germany’s Next Top Models imponieren will. Schlimmes | |
und Witziges, alles durcheinander, aber in der Traumlogik findet sich hin | |
und wieder auch eine Idee zu einer neuen Lösung eines realen Dilemmas. So | |
endet eine Diskussion über die Haltung zu den Antisemitismus-Vorwürfen | |
gegen die Kuratoren der „documenta fifteen“ hier brüsk und nett. | |
Die Auseinandersetzung mit den Einflüssen des Tages findet in der Nacht | |
ihre Fortsetzung, das Unbewusste betont Momente der Sorge, Peinlichkeit | |
oder des schlechten Gewissens. Die bestimmen dann Teile des Plots. Zu spät | |
dran sein, unvorbereitet zu einem Vortrag fahren, eine im Schritt zu enge | |
Hose trotzdem anziehen, das Kind versetzen, ein Kind bekommen ... – viele | |
solcher Momente stellt Jul Gordon ohne Hemmungen dar. Dazwischen gibt es | |
Action wie im Film, Verfolgungsjagden mit Schießereien. Oder den ganz | |
typischen Wunschtraum einer Zeichnerin, wie es wäre, mit einem Superstift | |
zu zeichnen. | |
Jul Gordon: „Der Frischkäse ist im 1. Stock – gezeichnete Träume“, Edit… | |
Moderne, 256 S., 25 Euro | |
30 Aug 2023 | |
## AUTOREN | |
Imke Staats | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |