# taz.de -- taz🐾thema: Vom Verlangen nach Licht und Farbe | |
> Was bringt der Kunstherbst? Französische Raubtieravantgarde, immersive | |
> postkoloniale Videos, die Berlin Art Week, performatives Malen und eine | |
> Bestandsaufnahme der Postmoderne | |
Bild: „Le Golfe des Lecques“ von Georges Braque | |
Von Jana Janika Bach | |
Niemand hätte diesen närrischen Wunsch nach einem nie enden wollenden | |
Sommer besser verstanden als Henri Matisse. Da passt es, dass sich die | |
Feriensaison mit einer Ausstellung im Kunstmuseum Basel verlängern lässt, | |
die sich der Freundesclique des spätberufenen Malers als erste | |
Avantgarde-Bewegung des 20. Jahrhunderts widmet. Kein festes Weltbild einte | |
die „Fauves“, mehr ihre Suche nach dem Unmittelbaren. | |
Im Norden Frankreichs, in der Picardie, wächst Matisse als Sohn eines | |
Drogisten und einer Modistin nicht ohne Schönheit, doch umgeben von | |
falb-blassen Feldern und rauchenden Fabriken auf. In jenen Kindheitsjahren | |
wurzelt sein Verlangen nach Licht und Farben, das er zeit seines Lebens vor | |
allem im Süden zu stillen suchte. Mit Paul Signac und Henri Edmond Cross | |
reist er 1904 nach Saint-Tropez, ein Jahr später mit Albert Marquet und | |
Henri Manguin zu Signac an die Côte d’Azur. | |
Magisch zog die zerklüftete Purpurküste Côte Vermeille Matisse an, das | |
irisierende Lichtspiel des Meeres und die Häuser in Zitronengelb, | |
Puderorange und Zinnoberrot von Collioure. Bald folgten ihm André Derain, | |
Maurice de Vlaminck, Kees van Dongen und Raoul Dufy in das an den | |
Ausläufern der Pyrenäen gelegene Fischerdorf, das zum Geburtsort des | |
Fauvismus werden sollte. Hier entstanden viele der farbintensiven | |
Ansichten, ungestüm aufgebracht, die im Pariser Herbstsalon von 1905 als | |
minderwertig diskreditiert wurden. | |
„Malen heißt nicht Formen färben, sondern Farben formen“, präzisierte | |
Matisse seine roh anmutende Technik. Es handle sich um Arbeiten von | |
„fauves“, von Raubtieren, schloss der Kritiker Louis Vauxcelles im Magazin | |
Gil Blas. Damit war der wilde, kurzlebige Kunststil, der in keine der | |
althergebrachten Schubladen passte, klassifiziert. Bösen Zungen zum Trotz | |
und obschon sich die Gruppe mit Beginn des Ersten Weltkriegs auflöste, | |
währte er fort. Inwieweit kann in der Baseler Schau erkundet werden, die | |
bislang Unterbelichtetes erhellt – etwa welche Rollen die mit fauvistischen | |
Werken handelnde Galeristen Berthe Weill oder Künstlerinnen wie Émilie | |
Charmy und Marie Laurencin für die Bewegung spielten. | |
Ablehnung, Angriffe, gar Morddrohungen hat die „Großmutter der Performance | |
Kunst“, wie sich Marina Abramović selbst beschreibt, erlebt. Mit einem | |
Metallkamm kämmte sich „die Serbin des Schmerzes“ die Haare, säuberte ein… | |
Berg Rinderknochen oder rannte über Stunden gegen einen Betonpfeiler. Dabei | |
ist die Provokation ihrer Kunst immanent, nicht arbiträrer Selbstzweck. Im | |
Herbst präsentiert die Royal Academy of Arts in London Videos, Fotos, | |
Objekte und Installationen aus Abramović’über fünf Jahrzehnte währenden | |
künstlerischen Karriere. Ob das Publikum ein starkes Nervenkostüm für die | |
angekündigten Live-Performances braucht, bleibt abzuwarten. | |
Die Galerie für zeitgenössische Kunst in Leipzig wird derweil von einer | |
Wiederauferstandenen heimgesucht. Königin Amalie Auguste will ihre mit 662 | |
Brillanten besetzte, ein halbes Kilogramm schwere Brustschleife aus dem | |
sächsischen Kronschatz zurück. Dessen Verschwinden geht aufs Konto der | |
Juwelendiebe im Dresdner Grünen Gewölbe. Die Schleife symbolisiert neben | |
einem immensen Materialwert europäische, von imperialer Gewalt geprägte | |
Geschichte, auf die „Eyes in Flux“ ein Schlaglicht wirft. Ergänzt wird die | |
raumgreifende Installation durch Performances, die Manipulation als | |
Werkzeug krimineller, politischer oder justiziabler Machenschaften | |
hinterfragt. | |
Nebel umwoben und Schnee bedeckt reicht die Bergkette an die Wolken. Nur | |
einer überragt das imposante Panorama: ein „Hummerbuckel“. Mit Spott wurden | |
die Soldaten des britischen Empires im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg | |
bedacht, in den Kolonien waren die „Rotröcke“ verhasst. Im Multikanal-Video | |
„Vertigo Sea“ trägt ein schwarzer Mann die charakteristisch rote Jacke zu | |
Lederstiefeln und Spitzhut. 2015 flimmerte dieses 40-minütige, | |
kinematografische Werk des im ghanaischen Accra geborenen Filmemachers John | |
Akomfrah auf der Kunstbiennale in Venedig über mehrere Bildschirme. | |
Postkolonialismus, Klima- oder Flüchtlingskrise finden in seinen | |
aufwühlenden, irgendwie reinigenden Arbeiten ihr Echo im Kunstkanon, der | |
Historie oder wie hier in der Literatur, in Melvilles „Moby Dick“. Längst | |
sind Akomfrahs assoziative Videoinstallationen, in denen er simultane | |
Erzählstränge zu einer kongenialen Collage verwebt, zum Markenzeichen des | |
in London lebenden Künstlers geworden. | |
1983 gründetet er hier mit anderen das legendäre Black Audio Film | |
Collective, das tradierte Geschichtsschreibung über Schwarze in | |
Großbritannien zur Disposition stellte. 2024 wird Akomfrah den britischen | |
Pavillon bespielen, in Deutschland gilt er indes eher als Unbekannter. Das | |
dürfte sich nun ändern. Mit „A Space of Empathy“ versammelt die Frankfurt… | |
Schirn Kunsthalle eine Auswahl seiner wichtigsten Arbeiten. | |
Zu sehen sein wird zudem eine neue immersive Installation, die einen weiten | |
Bogen von den ersten Siedlern Nordamerikas über die einem El Dorado | |
hinterher jagenden Konquistadoren bis zum Anlanden der schiffbrüchigen | |
Franzosen in der Karibik schlägt. Parallel dazu zeigt das Smithsonian | |
National Museum in Washington „Five Murmurations“. Der „visuelle Essay“ | |
umfasst die Zeit der Coronapandemie, die Ermordung George Floyds wie die | |
Black-Lives-Matter-Proteste. | |
Der Kunstherbst treibt es bunt, das offenbart spätestens ein Blick ins | |
Programm der zwölften Ausgabe der Berlin Art Week. Insgesamt nehmen an der | |
diesjährigen Festivalwoche mehr als 50 Museen, Projekträume oder Galerien | |
teil. Highlights finden sich da en masse, das Berliner C/O etwa ehrt die | |
Magnum-Fotografin Mary Ellen Mark, die Marginalisierte, Prostituierte in | |
Mumbai, Straßenkinder in Seattle oder Frauen in einer Psychiatrie in den | |
Fokus rückte. | |
Pünktlich zur Art Week eröffnet Fotografiska seine Dependance in der | |
Hauptstadt, unter anderem mit Candice Breitz, die in „Whiteface“ imitiert, | |
wie Menschen aus Film und Fernsehen oder auf Youtube über „race“ sprechen. | |
Die Stimmen stammen aus ihrem Found-Footage-Archiv. Daneben lädt das | |
Ausstellungshaus ein, in den Kosmos der schillernden US-amerikanischen | |
Multimedia-Künstlerin, DJane und Lyrikerin Juliana Huxtable einzutauchen. | |
Ihre Schau „Ussyphilia“ vereint bestehende mit neuen Produktionen, in denen | |
Geschlecht, Queerness, Herkunft oder Sexualität essayistisch umkreist | |
werden. Als afroamerikanische Transfrau, die in einer konservativen | |
Baptistenfamilie aufwuchs, versteht sich Huxtable als Vorreiterin. Im | |
performativen Malen oder einem Posieren vor der Kamera entwickelt sie ihr | |
visuelles Erzählen. Bekannt wurde sie 2015 mit einer 3-D-Skulptur von Frank | |
Benson, die ihren nackten Körper in Transition dokumentiert und an | |
Darstellungen der schlafenden Hermaphrodite in der römischen Antike | |
erinnert. | |
Wer sich für die Gegenwart interessiert, sollte auch die kommende | |
Ausstellung in der Bonner Bundeskunsthalle nicht verpassen. Nachdem die | |
großen Utopien der Moderne in ihrem Streben nach Innovation für überholt | |
erklärt wurden, geht es jetzt der Postmoderne in Debatten an den Kragen. | |
Nicht wenige halten ihre Werte und Ideen angesichts eines Angriffskriegs im | |
Herzen Europas, einer Rückkehr der Nationalisten und Faschisten oder | |
höchstentwickelter, doch zersplitterter Gesellschaften, die vornehmlich | |
Leistungsindividualisten hervorgebracht haben, für gescheitert. | |
In Bonn wird mit „Alles auf einmal: Die Postmoderne, 1967–1992“ eine | |
Bestandsaufnahme der Epoche gewagt, die den Vergnügungspark als Ideal eines | |
urbanen Lebensstils deklarierte. Von Memphis-Möbeln bis zum Techno-Pop: | |
Beispielhaft wurden Artefakte aus allen Disziplinen zusammengetragen, um | |
Ups und Downs der Informationsgesellschaft darzulegen – von den | |
entfesselten Kapitalmärkten bis zur Hochkonjunktur der Subkulturen und | |
Kulturtempel. Auf Letztgenannten fußt das größte Exponat, die | |
Bundeskunsthalle selbst. | |
26 Aug 2023 | |
## AUTOREN | |
Jana Janika Bach | |
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