| # taz.de -- Schwule im Irak: Umarmen ist erlaubt | |
| > Von der Welt unbemerkt, werden im Irak Schwule ermordet. Ein Pogrom auf | |
| > Raten. Überleben kann nur, wer unsichtbar bleibt. Ein Abend unter Männern | |
| > in Erbil. | |
| Dieser Text erschien am 14. August 2010 | |
| Als Schwuler im Irak hat John ernste Probleme, als Vater hat er auch | |
| alltägliche: „Wenn in Erbil mal wieder der Strom ausfällt, fällt auch die | |
| Klimaanlage aus, neulich habe ich meinem Kind die halbe Nacht Luft | |
| zugefächelt, damit es schlafen kann“, erzählt er. „John the XXL“ möcht… | |
| genannt werden. Das XXL ist ein schwuler Club in London, wo er, der | |
| Exilkurde, seit seinem 15. Lebensjahr gewohnt hat. Nach dem Einmarsch der | |
| Amerikaner ist er in den Irak zurückgekehrt, um in Erbil als Lehrer zu | |
| arbeiten. Er ist verheiratet – so wie fast alle Schwulen im Irak, die das | |
| 30. Lebensjahr überschritten haben, hat zwei Kinder. John, 34 und Christ, | |
| ist einer der vielen Kurden, die in den letzten Jahren aus Westeuropa | |
| zurückgekehrt sind in die sichere, boomende Region. „Hallo, wie geht’s?“… | |
| hessischem Tonfall zu hören ist in Erbil keine Seltenheit. | |
| Es ist noch immer über 40 Grad heiß, doch die große Brunnenanlage spendet | |
| am Abend ein wenig Kühle. Im Sprühnebel der Sonne, die schon bald abrupt | |
| untergehen wird, schimmern fast unmerklich die Farben des Regenbogens. Auf | |
| dem Platz um den Brunnen sind nun kaum mehr jene Frauen zu sehen, die noch | |
| bis vor Kurzem verhüllt rund um die mächtige Zitadelle, die das Stadtbild | |
| von Erbil beherrscht, zum Einkaufen unterwegs waren. Der öffentliche Raum, | |
| der neue Brunnenplatz, gehört nun den Männern allein. Sie promenieren, zum | |
| Teil Hand in Hand, die Arme einander um die Hüfte geschlungen. Sie trinken | |
| Tee und rauchen Wasserpfeife, reden über Politik und über die wie irre | |
| schwankenden Preise für Importtomaten. | |
| John, als Schwuler im Londoner Nachtleben sozialisiert, ist zu dem Treffen | |
| gekommen, um zu überprüfen, ob der Besucher aus dem Westen vertrauenswürdig | |
| ist, bevor er die anderen Jungs dazuholt. Die sind zum Teil nur übers | |
| Wochenende in Erbil, sie leben in Bagdad und Basra. Keine Fotos, keine | |
| richtigen Namen, die Biografien müssen verändert werden! Es ist noch nicht | |
| lange her, dass ein Schwuler aus Bagdad in einem australischen Magazin | |
| abgebildet war und danach erschossen wurde. Nun, da die Amerikaner ihre | |
| Truppen aus dem Irak abziehen, wird John sich in Sicherheit bringen. Bis | |
| Ende August sollen 90.000 von 146.000 Soldaten in die USA zurückkehren, bis | |
| Ende nächsten Jahres auch die letzten 50.000. John kann dank seines | |
| britischen Passes nach Europa zurückgehen. Seine schwulen Freunde müssen | |
| bleiben. Sie haben Angst vor einer Zukunft in Chaos und Bürgerkrieg. Und | |
| vor einer Regierung, die wohl auch in Zukunft nicht in der Lage oder | |
| willens sein wird, sie zu schützen. | |
| Doch noch ist es hier, in der Hauptstadt der nordirakischen Region | |
| Kurdistan, relativ sicher. | |
| Das muslimisch geprägte Erbil, eine Stadt mit einer Million Einwohnern, | |
| boomt und gilt als „Dubai Iraks“. Als Westler braucht man hier, im „Save | |
| Haven“ Iraks, kontrolliert von der kurdischen Armee und einem | |
| hocheffizienten Geheimdienst, keine Splitterschutzweste und keine | |
| angeheuerte Security, um sich frei bewegen zu können. Man muss keine | |
| Entführung befürchten wie im dreihundert Kilometer südlich gelegenen | |
| Bagdad, und ein Bombenattentat ist unwahrscheinlicher als im fünfzig | |
| Kilometer entfernten Kirkuk. Zu rechnen ist mit freundlicher Neugier, weil | |
| ein Westler hier auffällt, inmitten des orientalischen Markttreibens rund | |
| um die Zitadelle von Erbil. | |
| Homosexuelle aus dem Irak laufen hier immerhin nicht Gefahr, von einer | |
| islamistischen Miliz gefoltert und abgeschlachtet zu werden – für den | |
| Gesamtirak hat Amnesty international seit dem Jahr 2005 fünfhundert solche | |
| Fälle dokumentiert. Ein Pogrom auf Raten. | |
| „In Erbil wird niemand verhaftet, solange er sich nicht erwischen lässt“, | |
| erzählt John. „Die Regierung weiß, dass es Schwule gibt, wir werden so weit | |
| in Ruhe gelassen. Aber vor zwei Monaten wurde einer unserer Freunde von | |
| seinem eigenen Neffen umgebracht. Er war aufgeflogen.“ Entspannt sei hier | |
| kein Schwuler, sagt John, der einzige Ort, an dem sie sich wirklich sicher | |
| fühlen könnten, sei das hiesige Fünfsternehotel, Weststandard. „Im Irak | |
| wird es keine schwule Identität geben, solange alle am Islam, der Religion, | |
| der Tradition festhalten. Unter Saddam war es im Vergleich besser – er | |
| hatte ja einen schwulen Sohn, viele wussten das auch unter der Hand. Es gab | |
| offen lebende Transen in Bagdad, Bars, Clubs. Saddam war eben auch eine | |
| Lösung für den Irak“, sagt er, der Kurde, nüchtern. | |
| Auch unter Saddam Hussein wurde Bagdad in den Neunzigern konservativer, der | |
| Alkoholverkauf wurde eingeschränkt, Bars wurden geschlossen. Die | |
| Todesgefahr für Schwule im Irak entstand jedoch erst in jenem | |
| Sicherheitsvakuum, das nach dem Sturz Husseins entstand. Etwa durch jene | |
| Milizen, die sich statt um die allmählich in die Hände der irakischen | |
| Polizei zurückgegebene Sicherheit nun um die Moral kümmern. Kopfgelder auf | |
| Schwule aussetzen. Ihnen die Genitalien abschneiden, glühende Kohlen oder | |
| Besenstiele in den Anus stopfen. Junge Milizionäre fahnden in Internetforen | |
| nach Schwulen, verabreden sich mit ihnen, um sie dann zu töten. | |
| Hier, in der Autonomen Region Kurdistan, müssen Schwule „nur“ Todesangst | |
| vor ihrer eigenen Familie haben. Ehrenmorde, die in keiner Statistik | |
| auftauchen und juristisch unter Berücksichtigung mildernder Umstände | |
| geahndet werden: ein Jahr Haft für den Täter, es ging schließlich um die | |
| Familienehre. Mildernde Umstände, die für einen Ehrenmord an Frauen in | |
| Kurdistan zumindest offiziell nicht mehr gelten, wohl aber bei | |
| Homosexuellen. Im von der internationalen Gemeinschaft an die Region | |
| herangetragenen Fluss des „Gender-Mainstreamings“ sind sie bislang | |
| überhaupt nicht vorgesehen. Claudia Roth von den Grünen war unlängst auf | |
| Stippvisite in Erbil, „nach Schwulen hat sie nicht gefragt, diese Frage | |
| tauchte bislang auch nur beiläufig im Menschenrechtsbericht auf“, erklärt | |
| der noch bis vor Kurzem amtierende Generalkonsul Oliver Schnakenberg: „Es | |
| gibt keine Tradition der Menschenrechte im Irak, auch die Befreier | |
| konzentrieren sich in erster Linie auf die Sicherheit. Die Menschen hier | |
| haben vor allem Angst, bei einem Bombenanschlag zu sterben“, erklärt der | |
| Konsul. Er wirkt leicht überfordert. Was soll er auch sagen, nicht einmal | |
| die USA haben sich bislang zur Situation von Schwulen, Lesben und | |
| Transgender im Irak geäußert. Zu früh? Für viele von ihnen ist es längst zu | |
| spät. | |
| Mit seinem Smartphone verständigt John nun zwei seiner Freunde. Sie alle | |
| sind in einem Internetforum verlinkt, das nicht genannt werden darf. Sam | |
| kommt dazu, er ist dreißig, Muslim und arbeitet bei einem Security-Dienst | |
| in Bagdad. Sam sieht aus wie viele der anderen Männer hier auf dem Platz am | |
| Brunnen: mittelgroß, stämmig-muskulös, das eng anliegende Hemd in der | |
| Jeans, aus Asien importierte, spitz zulaufende Schuhe. Niemand käme auf die | |
| Idee, dass er ein Homosexueller sein könnte. Anders als bei dem sehr jungen | |
| Mann, der gerade vorbeiläuft und offensiv flirtet; seine Augen sind mit | |
| blauem Kajalstift bemalt, er wackelt mit den Hüften. „Der lebt gefährlich�… | |
| sagt Sam, „doch er scheint Glück zu haben, seine Familie hat ihm noch | |
| nichts getan. Ich würde sagen, dass achtzig Prozent solcher Schwuler im | |
| Irak in höchster Gefahr sind.“ Das Problem heißt Sichtbarkeit. | |
| Sam hat versprochen, dem Westler die unsichtbare Welt der Schwulen in Erbil | |
| zu zeigen. Sie ist schwer zu erkennen, weil sich die Männer für das | |
| westliche Auge unfassbar nahe sind. Sie berühren einander stetig, gehen | |
| liebevoll miteinander um, im Westen wäre so viel Nähe höchstens auf dem | |
| Fußballplatz erlaubt. Wir machen uns auf den Weg in einen Hamam, einen | |
| informellen Treffpunkt für Schwule. Das Dampfbad ist ziemlich | |
| heruntergekommen, früher reinigten sich hier ausschließlich irakische | |
| Soldaten. Ein Funktionsbau, ein großer Raum mit den typischen Waschplätzen | |
| am Rande und einem Podest aus heißem Stein in der Mitte. In der Schwüle des | |
| Raums sitzen die Männer und reiben sich mit Seife ein, man ist einander | |
| behilflich, weil der Rücken so schwer zu erreichen ist. Völlige Nacktheit | |
| ist nur kurz erlaubt, des Einseifens wegen, dann muss alles wieder unter | |
| einem Tuch verhüllt sein, nicht der Scham unter Männern wegen, sondern um | |
| die Gefahr sexueller Attraktion abzuwehren. | |
| Eine Gefahr, die gesellschaftlich mit umso härteren Strafen belegt ist, je | |
| mehr sie im realen Leben erblüht: In Gesellschaften, die von der Trennung | |
| der Geschlechter geprägt sind – kein Mann darf eine Frau vor der Heirat | |
| berühren –, gehört gleichgeschlechtliche Liebe meist zum Alltag. Man | |
| behilft sich untereinander. Und so ist es auch in Erbil kein Problem, als | |
| Schwuler andere Männer zu finden, mit denen man Sex haben kann. „Es gibt im | |
| Irak sehr viel Sex unter Männern. Für junge Männer ist es auch kein | |
| Problem, sich zu prostituieren, es ist nicht ehrenrührig. Eine Schande ist | |
| es nur, passiven Analverkehr zu haben“, erklärt Sam. Wer passiv ist, | |
| penetriert wird, verliert seinen Status als Mann, er wird zur Frau. Und da, | |
| wo Sex unter heterosexuellen Männern zum Alltag gehört, darf es | |
| Homosexualität auf keinen Fall geben. So wie es den Sex unter Männern gar | |
| nicht gibt, weil es ihn nicht geben darf. Man trifft sich im Hamam, ganz | |
| unter Männern, geht danach in ein Hotel oder in eine Wohnung, in der gerade | |
| niemand zu Hause ist. | |
| Sam wird heiraten müssen. Noch kann er seine Familie hinhalten, er hat | |
| erklärt, schon bald das Land verlassen zu wollen. Doch noch lebt er sein | |
| „freies“ Leben als Schwuler in der irakischen Hauptstadt: „Es gibt in | |
| Bagdad Parks und Plätze, an denen sich Schwule treffen. Bars und Klubs gibt | |
| es nicht mehr, auch keine informellen, das ist zu gefährlich. Man | |
| verabredet sich übers Internet oder über Mundpropaganda. Wenn ich jemanden | |
| kennenlerne, vermittle ich ihn an jemanden weiter, von dem ich glaube, dass | |
| er sein Typ ist.“ In seinem Mobile hat Sam mehr als achthundert Nummern von | |
| irakischen Schwulen. Er sagt, dass er bereit wäre, eine irakische | |
| Bürgerrechtsorganisation für Schwule und Lesben zu gründen, wenn diese | |
| geheim bliebe – und dass dies nicht ohne internationale Unterstützung gehe. | |
| Die einzige existierende Organisation, Iraqui LGBT, hat ihren Sitz in | |
| London und organisiert von dort aus sogenannte Save Houses in Bagdad, | |
| geheime Orte, an denen verfolgte Schwule und Transgender Schutz suchen | |
| können. Unterstützt wird Iraqui LGBT dabei unter anderem von der | |
| niederländischen NGO Hivos. Die Schwulen Iraks leben derweil in digitalen | |
| Katakomben, im Internet. Es bietet Schutz und verhindert zugleich, dass sie | |
| sichtbar werden, eine Infrastruktur aufbauen. Jüngere Schwule meiden sogar | |
| zunehmend die wenigen Treffpunkte, die Hamams und Parks. | |
| Doch es gibt sie noch. Sam drängt zum Aufbruch, die anderen warten dort, im | |
| Park. Winzig ist der, kleine Rabatten, ein Brunnen, und doch verfügt er | |
| über eine Attraktion: dort gibt es seit 2006 eine öffentliche | |
| Frauentoilette – mühsam erkämpft von einer Frauenrechtlerin aus Erbil. Die | |
| Männer nutzen traditionell die sanitären Anlage in den Moscheen, zu denen | |
| Frauen keinen Zugang haben. Frauen waren früher im öffentlichen Raum nicht | |
| vorgesehen, Gender-Mainstreaming in Erbil. Und rund um die Frauentoilette, | |
| ein winziges Örtchen der Freiheit mitten in Erbil, sind auch Schwule | |
| anzutreffen. Ganz in der Nähe liegt der Regierungssitz, sicher ist die | |
| Minderheit der Homosexuellen nur, wenn es eine funktionierende | |
| Machtstruktur gibt, die sie beschützt. „Es wäre besser, wenn die Amerikaner | |
| hierblieben“, sagt Sam, „wenn die sich komplett zurückziehen, dann gibt es | |
| einen Bürgerkrieg. Alle gegen alle, der Süden gegen die Kurden. Alle, die | |
| mit den Amerikanern zusammengearbeitet haben, werden bezahlen müssen.“ | |
| Was wird dann aus dem „Save Haven“ Kurdistan, dessen Armee mit den | |
| Amerikanern zusammen gegen Hussein gekämpft hatte? Wer bekommt das Öl in | |
| Kirkuk? „Die meisten Schwulen, die ich kenne, wollen den Irak verlassen“, | |
| sagt Sam. Ist er denn glücklich? „Den Umständen entsprechend. Solange ich | |
| gut ankomme bei anderen Männern, jung bin, mache ich das Beste aus meiner | |
| Situation“, antwortet er und klackert mit seiner bernsteinfarbenen | |
| Gebetskette. | |
| Die Katastrophe gehört im Irak zum Alltag, nicht nur für Schwule, Lesben | |
| und Transgender. Weil es kein Recht auf einen friedlichen Alltag gibt, | |
| versucht man, ihn sich einfach zu nehmen. Menschen im Park. Es ist dunkel | |
| geworden. Die Marktstände mit den Gewürzen, dem Obst und dem türkischen | |
| Honig sind abgebaut, die Goldschmieden haben geschlossen, doch die Straßen | |
| sind noch belebt mit Männern. Einige sind auf der Suche nach anderen | |
| Männern, sie sitzen auf den Bänken und warten. Die Freunde von Sam sind | |
| schon da, wir sind nun eine Gruppe von sechs Männern. Einer ist schon älter | |
| und trägt einen Schnauzer, einer ganz jung, er sieht aus wie Alexander der | |
| Große. Wir sitzen auf Bänken, Sam legt seinen Arm um den Besucher aus dem | |
| Westen, der erschrocken zurückweicht. Alle brechen in herzliches Gelächter | |
| aus. „Das ist erlaubt!“, lachen sie, „das ist doch erlaubt!“ Sie kriegen | |
| sich gar nicht mehr ein. Und dann ist es für einen Moment still, weil unter | |
| diesem Witz ein bitterer Ernst liegt. Die ganze Verrücktheit der Welt. | |
| Perry ist 29 und arbeitet in einem örtlichen Unternehmen. Auch er ist | |
| verheiratet, hat drei Kinder. „Mein Vater ist ein hohes Tier in der | |
| Verwaltung, er und mein Bruder haben mich unter Druck gesetzt, endlich zu | |
| heiraten“. Dabei hat er einen Freund im Iran, sie können sich aber nur | |
| einmal im Monat für zwei, drei Tage sehen. Mag er seine Frau? „Ja“, sagt | |
| Perry, „ich würde aber lieber mit meinem Freund zusammenleben, im Iran. | |
| Aber dort ist es noch gefährlicher.“ Perry ist traurig, dass ihn seine | |
| Familie, die er ebenfalls liebt, nicht akzeptieren kann, wie er ist. Und | |
| „gleichzeitig entspannt, weil sie Gott sei Dank nichts wissen“. Entspannt �… | |
| auch glücklich? „Das Leben ist dann schön, wenn wir uns wie jetzt treffen, | |
| eine schöne Zeit miteinander verbringen. Wenn wir freihaben, ausgehen | |
| können, miteinander rumhängen“, sagt Perry. | |
| Es ist schön an diesem Abend, alle lachen, albern herum. Es ist kein | |
| Unterschied zu spüren, ob man gerade in Erbil oder in Barcelona mit einer | |
| Gruppe Schwuler rumhängt, Witze macht, über Pop und Klamotten redet. Über | |
| Männer. Ali zum Beispiel steht auf türkische Kerle mit Bauch und | |
| Schnauzbart, er mag „Bären“ und kauft sich deshalb immer Musik-CDs von | |
| türkischen Popsängern, „wegen der Fotos“. Ali ist aus Basra, Offizier auf | |
| einem Handelsschiff und der Einzige hier, der den Irak schon mal verlassen | |
| hat. Mit dem Schiff. „Aber wir fahren nur die Golfstaaten an“, wiegelt er | |
| ab. Basra, die Hafenstadt im Südirak, sei relativ sicher, so wie Erbil. | |
| „Doch nicht für Schwule, dort sind sehr viele Schiiten, es ist nicht | |
| liberal. Dabei sind es gerade die Schiiten, die es miteinander treiben“ | |
| sagt er. In Dubai war er auch schon mal, „aber die Schwulenszene dort ist | |
| schwer zu finden, das sind eher Zirkel von Reichen“. Insgesamt, sagt Ali, | |
| „ist einfach zu viel Religion in der Welt“. Im Irak werde es, vielleicht, | |
| in zwanzig Jahren so etwas wie ein offen schwules Leben geben. Vielleicht. | |
| „Erst mal wird es jedoch einen Bürgerkrieg geben, wenn die Amerikaner | |
| gehen.“ | |
| Wir ziehen weiter durch die Stadt, essen Eis, trinken frisch gepressten | |
| Orangensaft – keinen Alkohol, das würden wir nur machen, wenn wir ins | |
| christliche Viertel gingen. Oder in die Bar am Plaza. Hier, Downtown Erbil, | |
| trinkt niemand Alkohol. Trotzdem muss man irgendwann mal auf die Toilette. | |
| Auf die Damentoilette geht nicht, und die Moscheen haben geschlossen. Wir | |
| gehen in Alis Hotel, der Concierge wird bestochen, damit er uns alle auf | |
| das Zimmer lässt, dabei wollen wir nur auf die Toilette. Als wir das Hotel | |
| wieder verlassen, gefriert den Jungs plötzlich das Blut in den Adern. In | |
| der Euphorie im Gespräch mit dem Besucher aus dem Westen hatte Ali Sam | |
| einen kurzen Zungenkuss gegeben. Sie wurden dabei von zwei Männern aus | |
| Erbil gesehen. Was wird nun geschehen? Es wird still. Der Einzige, der | |
| bislang deutlich sichtbar war, das war der Besucher aus dem Westen. Ein | |
| Exot, dem nichts passiert in Erbil. Nun sind auch Ali und Sam sichtbar | |
| geworden, nun sind sie in Gefahr. | |
| Die Gefahr gehört zum Alltag im Irak, doch heute Abend soll es schön sein, | |
| weil alle Freunde zusammen sind, offen reden können. Wir gehen noch einmal | |
| zum Brunnen. Als es zehn Uhr ist, wird er abgeschaltet. Die Bürger Erbils | |
| sollen nun nach Hause gehen. Wir ziehen über eine bereits leere | |
| Hauptstraße. Nur eine Frau – die einzige Frau überhaupt – begegnet uns, m… | |
| offenem Haar, Stöckelschuhen, kurzem Rock. „Das ist eine Prostituierte“, | |
| erklärt Ali. | |
| Wir sind auf dem Weg in die Iskan-Straße, die „Partymeile“ Erbils. Hier | |
| gibt es eine Mall, Restaurants, ein Billardcafé. Wir gehen in ein | |
| neonbeleuchtetes Restaurant und essen irakische Pizza, wir sind nur eine | |
| Gruppe junger Männer. Alle schütten traditionelle „Family Sauce“ auf ihre | |
| Pizza, eine dunkle, zähe Würzpaste. Als es ein Uhr ist, werden die Jungs | |
| unruhig, sie müssen nach Hause. Zu ihren Eltern, zu ihren Frauen und | |
| Kindern. Erlaubt ist, dass wir uns alle zum Abschied umarmen. | |
| 14 Aug 2010 | |
| ## AUTOREN | |
| Martin Reichert | |
| ## TAGS | |
| Best of Martin | |
| Krieg | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Tote durch bewaffnete Konflikte: Anstieg um fast 100 Prozent | |
| Die Zahl der in Kriegen und Konflikten getöteten Menschen hat sich 2022 | |
| fast verdoppelt. In der Ukraine und in Äthiopien gab es die meisten | |
| Todesopfer. |