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# taz.de -- Die frohe Botschaft und der Fall der Mauer
> Mit dem Doku-Stück „Über den Zaun“ widmet sich das Theaterensemble „D…
> Letzte Kleinod“ der massiven Fluchtbewegung von Deutschland über Prag
> nach Deutschland: Die diplomatische Vertretung der Bonner Republik in der
> Hauptstadt der Tschechoslowakei war Hauptbühne dieses Dramas, das
> Historie geworden ist
Bild: Der Botschafter (Sven Reese) freut sich, dass er auch mal Teil der Weltge…
Von Jens Fischer
Sie sind zu früh dran, und das mit Absicht: Das Doku-Theaterensemble „Das
letzte Kleinod“, das seinen Heimatbahnhof in der Ortschaft Geestenseth bei
Cuxhaven hat, widmet sich in seiner aktuellen Produktion der
Botschaftsbesetzung von Prag vor 34 Jahren, die mit der massenhaften
Ausreise von DDR-Bürger*innen in die Bonner Republik endete. Ein Jahr also
bevor ihr 35. Jahrestag pompös gefeiert und überhöht werden wird als letzte
Initialzündung einer friedlichen Revolution, die den Eisernen Vorhang
zerrissen, die Mauer zum Einsturz gebracht und einem ökonomisch sowie
ideologisch bankrotten System den Todesstoß versetzt hat. Momentan ist das
„Letzte Kleinod“, dessen Spielstätte elf historische, aber fahrtüchtige,
blaue Eisenbahnwaggons sind, damit unterwegs durch Niedersachsen gen Osten.
Viele sehr persönliche Geschichten haben im Spätsommer 1989 Weltgeschichte
geschrieben. Das hatte bald schon Filme, Bücher und Ausstellungen zur
Folge, die vor dem politischen Hintergrund der Perestroika-Folgen von
DDR-Bürgern erzählten, die massenhaft in die deutsche Botschaften
Ost-Berlins, Warschaus, Budapests und Prags geflüchtet waren, wo sie auf
eine Ausreise in die BRD pochten.
„Ostwärts in den Westen“ heißt beispielsweise eine 2021 vom Bremer Bündn…
für deutsch-tschechische Zusammenarbeit gestaltete Schau, die sich konkret
auf die Situation in der damaligen Tschechoslowakei bezieht und
verschriftlichte Aussagen von 13 Zeitzeugen mit historischem Bildmaterial
ergänzt. Was dem Medium gemäß auch in der Online-Darstellung eine etwas
spröde Erinnerungsarbeit darstellt.
Prima daher die Idee, dasselbe Thema anhand von Interviews mit teilweise
denselben Menschen sinnlich vitaler zu einem Dokumentardrama aufzubereiten.
„Über den Zaun“ heißt das Stück, das Regisseur Jens Erwin Siemssen daraus
entwickelt hat. Premiere war zu Himmelfahrt in Geestenseth. Aktuell hält
der Zug in Helmstedt, also dort, wo der größte innerdeutsche Grenzübergang
lag. Frankfurt an der Oder ist das Ziel der Reise.
Zu Kleingruppen sortiert, sitzt das Publikum in Stuhlkreisen zusammen,
denen sich sechs Figuren vorstellen. Es ist ja eine Kunst Siemssens, aus
monologischen O-Tönen der Recherchegesprächspartner:innen nicht nur
Selbstdarstellungssoli zu generieren, sondern auch dialogische Szenen zu
bauen. Dazu hat das Team mit Prager Botschaftsangehörigen,
Rote-Kreuz-Helferinnen, Nachbarn des Botschaftsviertels und Geflüchteten
gesprochen, Heiko Strohmann zum Beispiel. Heute Fraktionsvorsitzender der
CDU in Bremen, 1968 in Rostock geboren. Schon als Jugendlicher merkte er,
welche Probleme nicht konformes Verhalten in der DDR mit sich bringt.
Siemssens Gespräch mit Strohmann ist in die Texte der Figur „Prinz“
eingeflossen, die sagt: „Ich bin in einem kommunistischen Elternhaus groß
geworden, war ein Kind der Nomenklatura. In China nannte man es immer ,die
roten Prinzen‘. Meine politische Karriere war vorgezeichnet: Schule,
Pioniere, FDJ.“ In einer Mischung aus Stolz, Ekel und Hass zeigt Prinz
einen FDJ-Orden und berichtet in trauriger Selbstsicherheit vom Frust, nur
als Schlosser auf einer Werft malochen zu können: „Ich habe mit dem System
abgeschlossen und war eigentlich mit 19 Jahren eine gescheiterte Existenz.“
Alle Ensemblemitglieder bekommen so ihren eigenen, dem Westen entgegen
strahlenden, dem Osten grimmig das Hinterherweinen versagenden
Einführungsmonolog. Die Darsteller:innen hantieren dabei mit jeweils
einem Requisit vom Ostalgie-Flohmarkt – etwa einem Kassettenrekorder des
Kombinats VEB Stern-Radio oder einer Tasche aus Planen des VEB Fortschritt
Magdeburg. Auch dabei: ein Thermo-Speisekübel sowie eine Luftdusche, vulgo:
Fön, made in DDR.
Zur nächsten Szene geht es in einen Waggon, der extra mit aufgeschlitzten
und verrottenden Kunststoffsitzen aus alten Personenzügen ausgestattet
wurde. Zwischen den Besucher:innen spielt das Ensemble den
Grenzübertritt auf der Strecke Dresden–Prag, lässt Unsicherheit sowie
Ängste vor Entdeckung der Fluchtpläne spürbar werden und Durchsuchungen wie
auch eine Leibesvisitation durch DDR-Zoll und Stasi miterleben.
Lockerer vermittelt sich die Anreise mit dem Auto. Auf einem Güterwagen des
Kleinod-Zugs ist ein vom Dreck versehrter Trabi geparkt, in dem ein Paar
„Du hast den Farbfilm vergessen“ singt und höchst fidel von Erlebnissen an
der ČSSR-Grenze berichtet. Was fehlt, ist eine wirkliche Auseinandersetzung
mit der Situation in der DDR, die Menschen alles aufgeben und flüchten
ließ. Von grundsätzlicher Unzufriedenheit ist zumeist die Rede – und: „Wir
wollten nur eins: die Freiheit!“
Mit Humor wird die sich zuspitzende Lebenssituation auf dem mit mehr als
4.000 Menschen überfüllten, schlammbrühigen Grundstück der Botschaft in
Kurzszenen beleuchtet. Das macht den Gemeinschaftsgeist, die Solidarität
auf allen Ebenen deutlich. Der „Botschafter“ erklärt, dass die Zuflucht
Suchenden laut Grundgesetz Deutsche waren und ein Anrecht auf den
bundesrepublikanischen Pass hatten.
Sven Reese, das einzige aus dem Osten Deutschlands stammende
Ensemblemitglied, spielt diesen einzigen Westdeutschen des Stücks als
biederen Beamten, der von innerer Freude geflutet wird, endlich mal nicht
Bürokratie devot bedienen zu müssen, sondern eine wirkliche Aufgabe zu
haben. Die siegreich mit der Ausreise aller Botschaftsbesetzer endet. Dazu
wird die deutsche Nationalhymne auf einer Blockflöte gespielt. „Dann kam
mein erster Besuch bei McDonald’s. Hammer. Jetzt hier mal was Richtiges.
Aber als ich das in die Hand genommen habe, so ein labberiges,
schwabbeliges Brötchen. War die erste Enttäuschung im Westen.“
Die schlicht chronologische Erzählung ist vor allem eins: eine
respektvoll-dankbare Würdigung der euphorischen Kraft und Courage der
Botschaftsflüchtlinge, die bewiesen, dass mehr möglich ist, als der gemeine
Alltagskleinmut so denkt. Wobei einige der Schauspieler auch für politisch
aktuelle Assoziationen sorgen, sind sie doch vor der Einberufung in den
mörderischen Angriffskrieg gegen die Ukraine aus Russland geflohen.
Siemssen lernte sie und viele weitere junge Regimegegner auf Gastspielreise
in Kasachstan kennen, bat dort zum Casting, engagierte ein
Theatermachertrio und besorgte ihm für Deutschland eine
Aufenthaltsgenehmigung. Für 2024 will „Das Letzte Kleinod“ ein Stück mit
Ukrainern und Russen produzieren.
Aufführungen: Helmstedt, Güterbahnhof, 27.–29.5., 20 Uhr. Tickets online
auf: [1][www.das-letzte-kleinod.de]
26 May 2023
## LINKS
[1] https://www.das-letzte-kleinod.de/tickets/
## AUTOREN
Jens Fischer
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