| # taz.de -- Autoritär und antidemokratisch | |
| > Weil Bremens Bürgermeister Andreas Bovenschulte (SPD) nicht mit den | |
| > „Bürgern in Wut“ (BiW) sprechen möchte, kritisiert ihn der Bremer | |
| > Politikwissenschaftler Lothar Probst. Die BiW seien eine demokratische | |
| > Partei, weil sie demokratische Verfahren wie Kleine Anfragen nutzen. Das | |
| > ist demokratietheoretisch und verfassungsrechtlich unhaltbar und | |
| > politisch blauäugig | |
| Bild: Keine lupenreinen Demokraten: Piet Leidreiter (v. l. n. r.), Bremer Spitz… | |
| Gastkommentar von Andreas Fischer-Lescano und Tore Vetter | |
| Nach den Wahlen zur Bremischen Bürgerschaft kündigte Bürgermeister Andreas | |
| Bovenschulte an, Gespräche mit „allen demokratischen Parteien“ zu führen … | |
| außer mit den „Bürgern in Wut“ (BiW), denen er absprach, demokratisch zu | |
| sein. Dafür erntete er teils harsche Kritik. So bezeichnete der | |
| Politikwissenschaftler Lothar Probst die Einschätzung Bovenschultes als | |
| „kaum haltbar“ und bezog sich dabei im Wesentlichen darauf, dass die BiW in | |
| der Bürgerschaft immer wieder von demokratischen Instrumenten, etwa Kleinen | |
| Anfragen, Gebrauch gemacht hätten. | |
| Dass Probst die BiW allein wegen der Nutzung demokratischer Verfahren als | |
| demokratisch einschätzt, ist demokratietheoretisch und verfassungsrechtlich | |
| unhaltbar und politisch blauäugig. | |
| In seinem letzten Urteil zum NPD-Verbot hob das Bundesverfassungsgericht | |
| die Bedeutung der gleichwertigen Menschenwürde als Fundament der Demokratie | |
| hervor: Sie kann überhaupt nur gelingen, soweit die grundlegende | |
| Gleichwertigkeit aller Menschen als Menschen gewährleistet ist. Rassismus | |
| und Antisemitismus – so die Verfassungsrichter*innen ausdrücklich – | |
| sind mit dem Grundgesetz unvereinbar. | |
| Schon bei dieser Frage gibt es Zweifel an der demokratischen Haltung der | |
| BiW. Ihr Wahlprogramm ist von antiislamischen Ressentiments durchsetzt. | |
| Schon 2015 waren Vertreter*innen der BiW maßgeblich an der | |
| Stimmungsmache gegen Geflüchtete beteiligt und mobilisierten mit dem Slogan | |
| „Vollzug statt Schöner Wohnen“. Erst kurz vor der Bürgerschaftswahl verli… | |
| der Listenkandidat Heiko Werner die Partei, nachdem seine Kontakte zur | |
| rechtsextremen Szene bekannt geworden waren. | |
| Nach ihren „Leitlinien“ streben die BiW eine „geistig-moralische Wende“… | |
| Sie sehen sich im Kampf gegen „Multi-Kulti-Ideologie“, „Political | |
| Correctness“ und die „hedonistische Spaßgesellschaft“ – Chiffren, die … | |
| der Neuen Rechten immer wieder benutzt werden, um ihre völkische Ideologie | |
| zu maskieren. | |
| Dies sind Tendenzen, die in den radikalsten Formen die vermeintliche | |
| „Multi-Kulti-Ideologie“ durch einen sogenannten „Ethnopluralismus“ erse… | |
| wollen – ein Konzept, das auf der Trennung angeblich unterschiedlicher und | |
| nicht zu vermischender Gesellschaftsgruppen beharrt und der gleichwertigen | |
| Menschenwürde widerspricht. | |
| Noch deutlicher wird das Fremdeln der BiW mit der Demokratie in den | |
| institutionellen Teilen des Wahlprogramms. So wollen sie allen Ernstes | |
| einen „Bremer Landespräsidenten“ einführen, um „Filz und Vetternwirtsch… | |
| entgegenzuwirken. Dieser solle direkt von den Bürger*innen gewählt | |
| werden und dürfe keiner politischen Partei angehören oder nahestehen. | |
| Anders als die/der Bundespräsident*in, soll „der Landespräsident“ | |
| weitreichende Befugnisse bekommen. Er soll die Vergütung der | |
| Bürgerschaftsabgeordneten und Senator*innen festlegen, die | |
| Richter*innen des Staatsgerichtshofs und der obersten Landesgerichte | |
| bestimmen und als oberster Dienstherr der Wahlämter die Landeswahlen | |
| verantworten. Als wäre das nicht genug, soll „der Landespräsident“ auch | |
| noch das Landesamt für Verfassungsschutz beaufsichtigen. | |
| Dieser Vorschlag verstößt gegen zentrale Verfassungsgrundsätze, die das | |
| Bundesverfassungsgericht neben der Achtung der gleichwertigen Menschenwürde | |
| als Kern der demokratischen Grundordnung betrachtet – nämlich gegen die | |
| Unabhängigkeit der Justiz und die Gewaltenteilung. | |
| Zwar hat das Bundesverfassungsgericht mehrfach betont, dass grundsätzlich | |
| auch Formen unmittelbarer Demokratie mit dem Grundgesetz vereinbar wären – | |
| mit „direkter Demokratie“ hat der Vorschlag des „Bremer Landespräsidente… | |
| jedoch nur auf dem Papier etwas zu tun. Demokratie erschöpft sich nicht | |
| darin, irgendwie, irgendjemanden zu wählen, sondern ist untrennbar mit | |
| rechtsstaatlichen Grundsätzen verbunden. So gewährleistet sie ein | |
| kompliziertes, stetig neu auszutarierendes System aus demokratischer | |
| Herrschaftslegitimation und gegenseitiger institutioneller Kontrolle – | |
| Checks and Balances. Diese Aufteilung der Gewalten greift das Konzept des | |
| „Landespräsidenten“ an, indem dieser direkten Zugriff auf die Judikative | |
| erhalten soll. Das Ergebnis wäre eine präsidial gleichgeschaltete Justiz, | |
| die mit rechtsstaatlicher Demokratie unvereinbar ist. | |
| In rechten Kreisen ist die Idee eines potenten „Wahlmonarchen“ nicht neu. | |
| Schon der Staatsrechtler und „Kronjurist“ des Dritten Reiches, Carl | |
| Schmitt, hatte so versucht, die Weimarer Republik weiter zu unterminieren. | |
| „Demokratie“ bedeutete für Schmitt vor allem die Abkehr vom Rechtsstaat. | |
| Dessen Institutionen seien der politischen Form „nicht wesentlich, | |
| vielleicht sogar fremd“. Auch in der Bundesrepublik hat die Rechte die Idee | |
| einer politischen Souveränität ohne Rechtsstaat nie aufgegeben. Es gehört | |
| zur politischen Identität der Neuen Rechten, sich als Vertretung einer | |
| schweigenden Mehrheit aufzuführen. Auch Herrscher autoritärer Staaten wie | |
| Russlands Putin, Ungarns Orbán oder der jüngst wieder gewählte türkische | |
| Präsident Erdoğan berufen sich allzu gerne auf ihren direkten Draht zum | |
| Volke und stellen sich als lupenreine Demokraten dar, während sie den | |
| Rechtsstaat schleifen. | |
| Der Rechtswissenschaftler Günter Frankenberg warnte daher 2019 vor der | |
| Gefahr autoritärer Präsidialsysteme. Autoritäre Politiker*innen | |
| setzten an die Stelle der rechtsstaatlich-demokratischen Verfahren die | |
| direkte Kommunikation mit dem „Volk“ und die illusionäre Gemeinschaft von | |
| Führer und Gefolgschaft. Sie lockerten so „unter der Hand“ ihre eigene | |
| Bindung an die Verfassung, auf die sie sich zugleich zur Legitimation ihrer | |
| Herrschaft offensiv berufen. Befreit von den Hindernissen lästiger | |
| Kontrolle vollziehe sich eine entformalisierte Machtausübung gleichsam auf | |
| „leisen Sohlen im Dunkel des autoritären Konstitutionalismus“, die sich | |
| zudem regelmäßig ein völkisches Kostüm anlege. | |
| Die Inszenierung des „Landespräsidenten“ als Ausdruck direkter Demokratie | |
| bedient sich aus diesen Skripten der autoritären Rechten. Ihnen ist | |
| Demokratie kein fragiles Gut, das gerade durch die politische | |
| Auseinandersetzung und die Teilung von Macht geprägt ist, sondern nur Folie | |
| für populistische Politik, die das „Volk“ als nationale | |
| Schicksalsgemeinschaft definiert, die eben nicht „multi-kulti“, sondern | |
| national-homogen zu verstehen sei. In dieser Frage sind die BiW zudem auch | |
| äußerst „unbremisch“ – denn das Demokratieprinzip der Bremischen Verfas… | |
| knüpft anders als das Grundgesetz ausdrücklich an die bremische | |
| „Bevölkerung“ an und nicht abstammungsförmig an einem wie auch immer | |
| homogen verstandenen „Volk“. | |
| Nein, die BiW sind keine demokratische Partei. Sie sind die Nutznießer des | |
| Versagens der AfD und deren Geschwister im Geiste. Nicht Bovenschultes | |
| Ausschluss der „Bürger in Wut“ aus dem Kreis der demokratischen Parteien | |
| sollte daher der Skandal sein – der Skandal ist die Normalisierung rechter | |
| Konzepte, die Grundlagen der Verfassung widersprechen. | |
| 9 Jun 2023 | |
| ## AUTOREN | |
| Andreas Fischer-Lescano | |
| Tore Vetter | |
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