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# taz.de -- Predigt ohne Gott
> Verhält sich René Polleschs Diskurstheater zum konventionellem
> Repräsentationstheater wie die Reform zur Orthodoxie? „Mein Gott, Herr
> Pfarrer!“ hatte Premiere an der Volksbühne. Mittendrin: Heimkehrerin
> Sophie Rois
Bild: Zitatsurfen und Rollentausch: Sophie Rois, Inga Busch, Benny Claessens, C…
Von Valentin Wölflmaier
„Lasst es uns doch mit dem Christentum versuchen!“, schwäbelt der neue
Pfarrer in der ARD-Serie „Oh Gott, Herr Pfarrer“ Ende der 80er. Mindestens
zwei Raumzeitdimensionen weiter versucht René Pollesch es mit dem
Christentum: in seinem neuen Stück „Mein Gott, Herr Pfarrer!“, das jetzt an
der Berliner Volksbühne uraufgeführt wurde.
Die zentrale Referenz für diesen Abend ist dabei Ingmar Bergmans „Licht im
Winter“ (1962), aus dem immer wieder einzelne Szenenfragmente nachgespielt
werden. Der Film zeigt den zweifelnden Pfarrer Ericsson, der seiner
Gemeinde nichts Erbauliches mehr zu sagen weiß. In der Schlussszene hält
er, nun endgültig vom Glauben abgefallen, vor einer fast leeren Kirche
seine Messe. In Anspielung darauf fängt auch der Pollesch-Abend an.
Während noch Zuschauer:innen im gut besuchten Großen Haus ihre Plätze
suchen, erklingt ein Blues des Modern Jazz Quartets aus den Lautsprechern.
Auf der Bühne (Hartmut Meyer) ist eine waldorffarbig-impressionistisch
bemalte Pappwand zu sehen, wie von einer riesigen Hand zu einem L geformt
und etwas grob in den Bühnenraum gesteckt, davor ein drehbestuhltes
Treppenpodest. Dann Saaltüren zu, Licht aus und Auftritt Sophie Rois, die
nach sechsjährigem Exil wieder heim an die Volksbühne kehrt. In den Händen
hält sie eine Kerze, deren Licht auf die dunkle Bühne fällt: ein großes
Bild für einen Moment, dann geht das Bühnenlicht an. Das Kleid ist grau
(Kostüme: Sabin Fleck), die Haare zerzaust, und Rois sagt mehr erleichtert
als entsetzt: „Oh mein Gott! Keiner da.“
Wie so oft bei Pollesch ist alles mehrfach codiert, und einiges davon
bezieht sich auf den Volksbühnenkontext selbst: keiner da –
postpandemischer Zuschauerschwund; wieder da – die zurückgekehrte Sophie
Rois. Vor allem Letzteres passiert oft und wird vom Publikum mit Lachern
goutiert. Als wandelnde Schnittstellen von Bergman-Zitaten darf man aber
nicht nur Rois’ wie immer umwerfendem Spiel beiwohnen, sondern auch einem
sehr witzigen Benny Claessens sowie den ebenfalls Pollesch atmenden
Schauspielerinnen Inga Busch und Christine Groß.
Dieses Zitatsurfen durch unterschiedliche Ebenen und Vorlagen führt genauso
wie das Rollentauschen zwischen den Spielenden immer wieder zu lustiger
Metaverwirrung („Warum bin ich der Papa in Erinnerungen von Leuten, die ich
gar nicht kenne?“), ohne dass man selbst dabei viel schlauer wäre. Rois
spielt mal den „Unterhaltungskünstler“ Karen Bergman, mal die Witwe Karin
Persson, Claessens gibt Pastor und Papa, und Inga Busch und Christine Groß
die Töchter (Kolleginnen?) Inga und Marianne. Gleichzeitig hebeln genau
diese nicht auflösbaren Verzwirbelungen alle Fragen nach Eigentlichkeit und
Uneigentlichkeit aus, ein entnaturalisierender Gestus, den man so schon von
Pollesch kennt.
Für Pollesch sollte die Bühne nie Repräsentationsort symbolischer
Handlungen sein, die Gesten der Spieler:innen keine inneren Welten von
Figuren suggerieren, weil gerade das bloß heteronormative
Repräsentationssysteme reproduziere. Und trotzdem gibt es auch bei Pollesch
noch Bühne, Regie und Publikum. Ein Priester, der nicht glaubt, aber vor
leeren Reihen seinen Gottesdienst hält: Vielleicht beschreibt das den
Widerspruch dieser Poetik. Wenn die Gesten des ungläubigen Pfarrers zu
weltlichen Handlungen verkommen – warum macht er sie dann noch?
Diedrich Diederichsen sprach einmal von den „konkreten Negationen“ des
Pollesch-Theaters, was sich vor allem auf gängige Theaterpraktiken bezog.
Für G.K. Chesterton, neben Bergman ein weiterer wichtiger Stichwortgeber an
diesem Abend, barg gerade das Christentum den „Springquell von Revolution
und Reform“: „Erst seit ich weiß, was Orthodoxie ist, weiß ich, was
geistige Befreiung ist.“ Verhält sich Polleschs Diskurstheater zum
konventionellem Repräsentationstheater wie die Reform zur Orthodoxie?
Vielleicht hat er in dieser Inszenierung ja so etwas wie eine thematische
Entsprechung gefunden.
Sollte man nun also auch als Atheist an Gott glauben? Zumindest müsste man
dann nicht ständig an sich selbst glauben. Mit der Passionsgeschichte gegen
die kapitalistische Selbstverwirklichung, wenn das nicht nach
Pollesch-Stoff klingt. Und ein Gott, der am Kreuz den Glauben an sich
selbst verliert und das auch noch im Modus des Zitierens („Mein Gott, warum
hast du mich verlassen“ steht immerhin schon in Psalm 22), wäre doch ein
ganz guter Atheisten-Gott.
Einen großartigen Chor gab es diesmal übrigens auch wieder: Der Mädchenchor
der Sing-Akademie zu Berlin entlässt ein beglücktes Publikum mit einem
völlig unironischen „Kyrie eleison“ aus dem Volksbühnentempel.
Nächste Aufführungen: 17., 25. Juni, 7. Juli
6 Jun 2023
## AUTOREN
Valentin Wölflmaier
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