# taz.de -- Ausgehen und rumstehen von Amelie Sittenauer: 91-Jährige im Kopf | |
Mein Wochenende startet mit einem Dämpfer. Ich bekomme einen Anruf von | |
meiner Mutter. Meiner 91-jährigen Oma gehe es schlecht, sie sei im | |
Krankenhaus und schwach. | |
Meine Abendpläne sage ich ab und gehe stattdessen spazieren, doch finde ich | |
an dem Tag nichts Tröstliches an Berlin. Meine Oma war noch nie hier. Seit | |
über 70 Jahren lebt sie auf einem Bauernhof in Oberbayern und will dort | |
auch nicht weg. Immer wenn ich sie besuche, fragt sie, wann ich endlich | |
dorthin zurückziehe. Und sagt dann auf Bayerisch: „Ihr seid nichts zu | |
neiden.“ Und meint damit eigentlich alle. | |
Mein Leben hier kennt sie nicht, doch an diesem Wochenende ist sie sehr | |
präsent in meinen Gedanken. Als ich also über das Tempelhofer Feld radle, | |
stelle ich mir nur ihr ungläubiges Gesicht vor. „So ein großes Feld. Da | |
könnte man ja zumindest irgendwas anbauen, Gemüse, aber nein, nur Unkraut“, | |
erahne ich ihre Ausrufe, ihr entgeistertes Kopfschütteln. Vorbei am | |
Herrfuhrtplatz im Schillerkiez hoffe ich nur, dass ihr möglichst das | |
Restaurant nicht auffiele, das in dem Seitenflügel des dortigen | |
Kirchengebäudes den Gästen Aperol serviert. Meine katholische Großmutter | |
wäre außer sich, reicht ja schon, dass wir alle nicht in die Kirche gehen. | |
Und dann 7 Mark für einen Milchkaffee, „wir sind wirklich alle narrisch“ �… | |
womit sie nicht unrecht hat. | |
Am Samstag bin ich auf einer Geburtstagsparty eingeladen, ich komme früher | |
vorbei, um bei den Vorbereitungen zu helfen. Während meine Freund*innen | |
draußen die Technik für die Musik in den Hausflur laden, passiert fast ein | |
Unfall. Ein Auto parkt rücksichtslos direkt auf dem Gehweg, fast fährt es | |
Menschen an, statt Entschuldigungen kommen von der Autofahrerin nur wüste | |
Beschimpfungen. Daraufhin fliegen spontan ein paar Eier auf die | |
Kühlerhaube. Meiner Oma gefiele das mit den Eiern gar nicht. Die Frau, die | |
selbst Hühner gehalten hat und einmal Kriegskind war, die das Eiweiß aus | |
Gewohnheit aus den aufgeschlagenen Eierschalen kratzt, würde Eier auf gar | |
nichts werfen. Schmunzeln müsste sie vielleicht aber trotzdem. | |
Die Party in den großen Räumen einer alten Fabrik startet, die | |
unterschiedlichsten Leute sind da. Einige aus dem Wohnprojekt vor Ort, | |
Freunde von Freunden, un- und altbekannte Gesichter. Niemand kennt alle, | |
selbst das Geburtstagskind nicht. Die Küchenzeile wird zum DJ-Pult. Die | |
Leute sind von überallher, neben Deutschland aus Frankreich, Polen, | |
Singapur, Italien, USA und Großbritannien, unterhalten wird sich auf | |
Deutsch, Englisch oder Französisch, kurz auch mal auf Italienisch. An | |
diesem Punkt lacht Großmutter in meinem Kopf nur noch hysterisch, all die | |
Sprachen, all diese unterschiedlichen Leute, „da hinten küssen sich zwei | |
Frauen“. Zur Beruhigung schenke ich der 91-Jährigen in meinem Kopf einen | |
Piccolo ein. Und stelle mir vor, wie sich meine leicht angeschwipste Omi | |
nun im Smalltalk mit zwei Britinnen versucht, die Krönung von König Charles | |
war ja heute, wie haben sie gefeiert? Die zwei prusten los, „die Monarchie | |
ist eine rassistische Institution und gehöre abgeschafft“. Die Oma in | |
meinem Kopf schenkt sich mehr Sekt nach, ihre Butterkeksdose mit dem | |
Gesicht der Queen darauf drückt sie tiefer in ihre Handtasche. | |
Dann werden die Musik lauter und die Stimmung lockerer, die Unsicherheiten | |
weniger, das Tanzen mehr. Meine Oma im Kopf und ich verlieren uns in der | |
Menge, während wir „I wear my sunglasses at night“ tragen und „bright li… | |
a diamond“ scheinen. Als ich am nächsten Mittag aufwache, blitzen nur wirre | |
Vorstellungen auf, da ist sie auch, wild tanzend, rumknutschend? Omi, bist | |
du's? | |
Den nächsten Tag verbringen wir in der Sonne auf dem windigen Feld. | |
Irgendwann vibriert mein Handy. Ich höre die Stimme meiner Oma – die der | |
echten und nicht der in meinem Kopf – durch den Lautsprecher. Mittlerweile | |
geht es ihr wieder besser, sie hält sich wie immer kurz am Telefon. Sagt | |
mir, dass ich schnell wieder nach Hause kommen soll, und wünscht mir „Alles | |
Gute“. Dann legen wir auf. Und ich bin froh, dass sie noch da ist. Wenn | |
auch nicht in Berlin. | |
9 May 2023 | |
## AUTOREN | |
Amelie Sittenauer | |
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