# taz.de -- debatte: Ein Fall von Klassenverrat | |
> Franziska Giffeys Berliner SPD macht sich gerade jene Klientel zum | |
> Partner für Wohnungsneubau, die eine Volksentscheids-Mehrheit enteignen | |
> wollte | |
Man kann einen Menschen mit einer Wohnung erschlagen wie mit einer Axt“. | |
Das hat nicht August Bebel gesagt, sondern sein Zeitgenosse Henrich Zille. | |
Das Mietskasernenelend des proletarischen „Milljöhs“ am Ende des 19. | |
Jahrhunderts, das der legendäre Künstler mit dem Spruch anprangerte, | |
existiert zumindest im Berlin des 21. Jahrhunderts so nicht mehr. | |
An Cholera, Typhus und den Blattern, wie es Friedrich Engels in seinen | |
Schriften zur Wohnungsfrage beklagte, sterben Mieter:innen der deutschen | |
Hauptstadt nicht mehr. | |
Aber die „Wohnungsfrage“ unserer Tage ist zu einer ähnlichen sozialen | |
Zeitbombe geworden. Was sich nicht nur an den rasant steigenden | |
Obdachlosenzahlen und den Zeltlagern des Lumpenproletariats unter Brücken | |
und S-Bahn-Bögen, vor Supermärkten und Sparkassen ablesen lässt. | |
Berlin hat seit den 2000er Jahren einen ebenso rabiaten wie konzertierten | |
Angriff des internationalen Investmentkapitals auf einen, infolge von 40 | |
Mauerjahren relativ günstigen Wohnungsmarkt erlebt. Die Äxte, mit der die | |
anonymen Pensionsfonds, Anlagefonds und Briefkastenfirmen, die dieses | |
lukrative Terrain planmäßig aufrollten und dessen Nutznießer bis heute | |
erschlagen, heißen Mietsteigerung und Umwandlung in Eigentumswohnungen. | |
„Diese Stadt lässt Dich machen“ – in ihrem neuesten Werbefilm beutet eine | |
Berliner Biermarke einmal mehr den Mythos von der Stadt der unbegrenzten | |
Möglichkeiten aus. Derweil flüchtet sich das unbotmäßige Kreativvölkchen | |
auf das der Spot zielt, ins Umland, weil es die lustigen Orte, an denen er | |
gedreht wurde, nicht mehr bezahlen kann oder diese von der öden | |
Investarchitektur a la Mercedes-Benz-Arena am Spreeufer plattgemacht wird. | |
Es ist diese kaum verhüllte Gier, die zum Volksentscheid am 26. September | |
2021 geführt hat. Dabei hatten sich bekanntlich 59,1 Prozent der | |
Abstimmenden dafür ausgesprochen, profitorientierte Wohnungsunternehmen wie | |
die Deutsche Wohnen oder Vonovia in Gemeineigentum zu überführen. | |
Es gehörte also schon einige Chuzpe von SPD-Spitzenfrau Franziska Giffey | |
dazu, ausgerechnet diese Klientel zu Partnern für ein „Bündnis für | |
Wohnungsneubau und bezahlbares Wohnen“ auszurufen. Die ideologische | |
Augenwischerei bestand darin, eine sozialpartnerschaftliche Symmetrie zu | |
suggerieren, die nicht existiert. Der Fall des Milliardärs Nicolas | |
Berggruen steht dabei pars pro toto. Kaum hatte er sich in der Stadt mit | |
ein paar Vorzeigeprojekten das Image des Kulturfreunds zugelegt, warf er | |
seine Mieter:innen reihenweise aus ihren Wohnungen und Ateliers. | |
Es steht paradigmatisch für die Lage der linken Volkspartei, dass sie die | |
„Expropriation der Expropriateure“ scheut, die die Theoretiker der | |
Arbeiterbewegung von Karl Marx über August Bebel bis Otto Bauer | |
propagierten. Ja selbst Kevin Kühnert wollte mal BMW kollektivieren. | |
Stattdessen bemüht Giffey das Gewissen, das schwieg, als sie bei ihrer | |
Doktorarbeit schummelte, um diese Initiative zu verhindern. | |
Lassen wir das Moralargument einmal beiseite, hinter dem sich eine ähnliche | |
Entideologisierung von Politik verbirgt wie hinter der stereotyp | |
wiederholten Formel „Das Beste für Berlin“ – als ob es nicht um die sozi… | |
Gestaltung der Stadt ginge. Lassen wir auch die Ablehnung eines | |
demokratischen Mehrheitsvotums für eine in der Verfassung vorgesehene | |
Maßnahme beiseite. Den Verursachern des größten anzunehmenden | |
Wohnungsproblems seit dem 2. Weltkrieg will Giffey nun gar noch | |
Steuererleichterungen gewähren, um den Wohnungsbau anzukurbeln. | |
So hartnäckig, wie sich Giffey gegen ein ursozialdemokratisches | |
Politikprojekt verwahrt, fragt man sich langsam: Von wem wird diese Frau | |
bezahlt? Von der SPD? Den Steuerzahler:innen? Oder der | |
Immobilienwirtschaft? Primus – dem „Immobilienentwickler im Luxussegment“, | |
der die SPD mit einer Spende von 9.999 Euro bedachte, dankte sie mit den | |
Worten: „Sie können mich bei Fragen oder Anregungen gerne direkt | |
ansprechen“. | |
Auch nach der Wahl bleibt die Rhetorik auffällig: Kein Tag vergeht ohne | |
neue Beispiele von Verdrängung und Entmietung – einer anderen Form von | |
Enteignung. Doch der jetzt vorgestellte Koalitionsvertrag mit der CDU sorgt | |
sich um die „schwierige und krisenhafte Rahmenbedingungen in der | |
Bauwirtschaft“ – kein Wort über die existenzielle Gefährdung tausender | |
Mieter:innen. | |
Im schwarz-roten Koalitionsvertrag fehlen klare Regelungen zu ihrem | |
effektiven Schutz, neue Ideen zum Mietendeckel oder dem vom | |
Bundesverwaltungsgericht kassierten Vorkaufsrecht. Dem zwielichtigen | |
Karstadt-Investor René Benko soll dagegen der Weg bereitet werden. Giffey | |
als Bausenatorin zu nominieren hat da eine gewisse Logik. Die | |
Projektentwickler für die geplante Randbebauung des Tempelhofer Feldes | |
werden sich die Hände reiben. | |
Der zügigen Umsetzung des Enteignungsbeschlusses des Volksentscheides | |
versuchen die Koalitionäre mit dem Ankauf von Wohnungen das Wasser | |
abzugraben. Was teurer würde als die Überführung in Gemeineigentum. | |
Die SPD-Spitze säuselt von einer „Koalition für alle“. So massiv aber wie | |
die Spitze der Sozialdemokratie für die Besserstellung der Expropriateure | |
Front macht, fühlt man sich eher an Friedrich Engels“ Diktum von 1872 | |
erinnert: „Der Staat ist nichts als die organisierte Gesamtmacht der | |
besitzenden Klassen, der Grundbesitzer und Kapitalisten gegenüber den | |
ausgebeuteten Klassen, den Bauern und Arbeitern. Was die einzelnen | |
Kapitalisten …nicht wollen, das will auch ihr Staat nicht“. | |
Man kommt sich vor wie ein Steinzeit-Marxist. Aber bei der Politik, der die | |
SPD in der „Wohnungsfrage“ den Weg bereitet, fällt einem leider kein | |
anderes Wort ein als das verstaubte Totschlag-Argument altlinker | |
Dogmatiker: „Klassenverrat“. | |
24 Apr 2023 | |
## AUTOREN | |
Ingo Arend | |
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