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# taz.de -- „Der offene Vollzug verliert zunehmend an Bedeutung“
> Die Soziologin Helena Schüttler hat am Kriminologischen
> Forschungsinstitut Niedersachsen an einer umfangreichen Studie zur
> Wirkung des offenen Vollzugs bei Strafgefangenen gearbeitet. Ihre These:
> Er bewirkt mehr, als viele glauben. Der seit Jahren zu beobachtende
> Rückzug daraus ist ein Fehler
Bild: Immer seltener: ein junger Erwachsener im offenen Vollzug, hier bei der T…
Interview Nadine Conti
taz: Frau Schüttler, Sie forschen dazu, wie sich der offene Vollzug bei
Strafgefangenen auswirkt. Wie kamen Sie dazu?
Helena Schüttler: Unsere Ausgangslage war die Beobachtung, dass der offene
Vollzug in den letzten Jahrzehnten zunehmend an Bedeutung verliert. Das
gilt für Deutschland insgesamt, aber ebenfalls für Niedersachsen, wo er im
Jahr 2022 auf elf Prozent gesunken ist. Wobei das in den einzelnen
Bundesländern sehr unterschiedlich aussieht: Es gibt Länder, da sind nur um
die fünf Prozent der Strafgefangenen im offenen Vollzug untergebracht –
unter anderem in Bayern, Sachsen-Anhalt, Thüringen – und Länder, in denen
sind es über 25 Prozent wie in Nordrhein-Westfalen oder Berlin. Insgesamt
sind die Belegungszahlen aber bundesweit seit Ende der 1990er-Jahre
rückläufig.
Worauf führen Sie das zurück?
Es ist schwer, diesen Wandel auf einzelne Faktoren zurückzuführen.
Interessanterweise zeigt sich der Trend nicht nur bei uns, sondern
beispielsweise auch in skandinavischen Ländern. Das hängt natürlich oft an
politischen Erwägungen und gesellschaftlichen Entwicklungen. In Deutschland
hat sich die Diskussion um den offenen Vollzug auch durch das Limburger
Urteil von 2018 verschärft: Damals wurden zwei Justizvollzugsbeamte für
ihre Entscheidung – einen wegen Verkehrsdelikten mehrfach vorbestraften
Gefangenen in den offenen Vollzug zu verlegen – wegen fahrlässiger Tötung
angeklagt und bestraft, da dieser während seiner Flucht einen tödlichen
Unfall verursachte. Das Urteil wurde später aufgehoben, hat aber für
Verunsicherung gesorgt.
Nun haben Sie versucht herauszufinden, ob sich offener Vollzug nicht doch
positiv auswirken kann. Wie ist denn da der Forschungsstand?
Es gibt tatsächlich kaum Untersuchungen, die Gefangene aus dem offenen und
dem geschlossenen Vollzug kontrolliert miteinander vergleichen. Bisherige
Studien haben den Selektionseffekt zwischen den beiden Gruppen nicht
hinreichend betrachtet, denn natürlich muss man eine ganze Reihe von
Anforderungen erfüllen, um überhaupt in den offenen Vollzug verlegt zu
werden. Deshalb haben wir uns für ein Verfahren – das sogenannte Matching –
entschieden, bei dem statistische Zwillinge gebildet werden. Wo also
Gefangene miteinander verglichen werden, die ähnliche Risiko- und
Schutzfaktoren aufweisen – aber einmal im geschlossenen und einmal im
offenen Vollzug untergebracht waren.
Wie findet man denn „statistische Zwillinge“?
Im Rahmen einer umfassenden Aktenanalyse haben wir die
Gefangenenpersonalakten zweier Entlassungsjahrgänge (2017 und 2018)
untersucht. In unserer Stichprobe von über 1.200 Akten wurden sowohl
Männer, Frauen als auch Jugendliche einbezogen, die in diesen zwei Jahren
aus einer der 13 niedersächsischen Vollzugsanstalten entlassen wurden und
mindestens neun Monate inhaftiert waren.
Und wie sah diese Aktenanalyse aus?
Mithilfe eines standardisierten Analysebogens konnten wir demographische
Daten, aber auch viele Angaben zum Delikt, den Vorstrafen und dem
Haftverlauf erfassen. Also: An welchen Maßnahmen hat die Person
teilgenommen? Hat sie gearbeitet? Welche Lockerungen wurden gewährt oder
auch wieder zurückgenommen? Am Ende haben wir uns auch die
Entlassungssituation angesehen: Wie gestaltet sich diese im Hinblick auf
Arbeit, Wohnraum oder soziale Kontakte?
Und wie sieht es mit den Rückfällen aus?
Dazu haben wir vom Bundeszentralregister Auszüge angefragt, um zu erfassen,
ob eine Person seit dem Tag der Entlassung wieder strafrechtlich in
Erscheinung getreten ist. Dabei ging es nicht nur darum zu erheben, ob die
Person rückfällig geworden war, sondern auch, wie oft und mit welcher Art
von Delikt.
Wie hoch war die Rückfallquote?
Insgesamt kann man sagen, dass 60 Prozent aus dem geschlossenen Vollzug
wieder rückfällig geworden sind und rund 40 Prozent aus dem offenen
Vollzug. Allerdings sind nicht alle, die erneut strafrechtlich in
Erscheinung getreten sind, auch wieder inhaftiert worden. Nur 18 Prozent
haben eine erneute Haftstrafe erhalten, der Rest wurde mit einer
Bewährungs- oder Geldstrafe sanktioniert. Männer und Frauen unterscheiden
sich dabei nicht so sehr, bei Jugendlichen sind die Rückfallquoten mit rund
70 Prozent deutlich höher.
Und wie ist das Bild nun bei den „statistischen Zwillingen“?
Zunächst einmal muss man sagen, dass diese Gruppe, in der wir
ausschließlich Inhaftierte betrachteten, die einen Zwilling gefunden haben,
noch einmal kleiner geworden ist. Da mussten wir uns auf die erwachsenen
Männer beschränken, weil bei Frauen und Jugendlichen die Ausgangsgruppe
einfach zu gering war. Wir haben 850 Personen in das Matching-Verfahren
aufgenommen und nach verschiedenen Merkmalen zusammengestellt – zum
Beispiel das Alter zum Zeitpunkt der ersten Verurteilung, die Schwere der
Straftat, die Anzahl der Vorstrafen, Suchterkrankungen, Obdachlosigkeit.
Und was sieht man an denen?
In diesem Verfahren haben wir festgestellt, dass es einen positiven Effekt
auf die Rückfälligkeit gab und Personen aus dem offenen Vollzug seltener
rückfällig wurden als ihre „Zwillinge“ aus dem geschlossenen Vollzug. Der
Effekt war allerdings eher gering und bei unserem Sample statistisch nicht
signifikant. Ganz deutlich sieht man den Effekt aber, wenn man eine erneute
Freiheitsstrafe als weiteres Rückfallkriterium untersucht: Personen, die
aus dem offenen Vollzug entlassen wurden, werden signifikant seltener
wieder inhaftiert.
Das klingt nicht nach einem durchschlagenden Erfolg.
Natürlich ist eine Rückfallquote von durchschnittlich 50 Prozent nach drei
bis fünf Jahren eher ernüchternd. Daher ist es sinnvoll, neben der
allgemeinen Rückfälligkeit noch weitere Marker einzusetzen, etwa die
erneute Inhaftierung oder die Veränderung der Deliktschwere. In der
Öffentlichkeit werden ja zumeist nur die hohen Rückfallraten berichtet.
Aber es gibt viele Inhaftierte, bei denen eine positive Entwicklung zu
verzeichnen ist. Und es macht schon einen Unterschied, wenn Sie jemanden
haben, der zum Beispiel wegen schwerer Körperverletzung inhaftiert war und
der danach nur noch mit Diebstahl oder Schwarzfahren auffällt. Auch wenn
die Person damit, formal betrachtet, als rückfällig gilt.
Und welche Schlussfolgerungen sollte man daraus ziehen?
Wir plädieren dafür, den offenen Vollzug auszuweiten und verstärkt zu
nutzen – gerade als Mittel des Übergangsmanagements. Gefangene können sich
so besser um eine Wohnung, eine Arbeitsstelle oder ihre Familien kümmern
und sind weniger von der Außenwelt abgeschottet. Weniger personalintensiv
und kostengünstiger ist diese Vollzugsform auch.
27 Mar 2023
## AUTOREN
Nadine Conti
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