# taz.de -- Harald Welzer über die neue Bürgerbewegung: Wir machen Ernst | |
> Nicht nur horizontloser Politik, sondern auch politiklosen | |
> Klima-Protestierenden fehlt der Ernst. Doch dazwischen formiert sich eine | |
> riesengroße Gruppe von Leuten, die die Probleme angehen wollen. | |
Bild: »Macht es richtig«: Wahlplakat in der Karl-Marx-Allee in Berlin-Mitte | |
Von [1][HARALD WELZER] | |
Ich sag mal so: Über den Klimawandel reden wir seit drei Jahrzehnten, über | |
das Artensterben seit einem halben Jahrhundert. Erneuerbare | |
Energietechnologie wird seit den großen Konflikten um die Atomenergie in | |
den 1980er-Jahren entwickelt und die Grenzen des Wachstums wurden vor mehr | |
als fünfzig Jahren erkannt und beschrieben. 2021 war ein Weltrekordjahr im | |
Kohleverbrauch, 2022 nochmals rekordiger. Keinerlei Trendwende in Sicht, | |
dass irgendetwas aus dem Universum des Zuviels weniger würde. Zum selben | |
Zeitpunkt, in dem ich dies wieder und wieder Festgestellte noch einmal | |
wieder feststelle, wird Greta Thunberg in deutschen Polizeigewahrsam | |
genommen, weil sie gegen den Kohletagebau protestiert hat; dasselbe | |
geschieht in Frankfurt Aktivistinnen und Aktivisten, die im Jahre des Herrn | |
2023 gegen einen Autobahntunnelbau protestieren, dem dringendst 1.000 Bäume | |
zum Opfer fallen sollen. Derweil ist der Bundesverkehrsminister ohnehin für | |
den weiteren Autobahnbau, weil er in den bisherigen 52 Jahren seines Lebens | |
noch nie davon gehört hat, dass mehr Straßen mehr Verkehr evozieren, und | |
genauso wenig etwas davon, dass die Menschen und ihre Wirtschaft ein | |
multiples ökologisches Problem haben und gerade dabei sind, ihre | |
Überlebensgrundlagen irreversibel zu konsumieren. | |
Bei Anne Will diskutiert das Grünen-Mitglied Luisa Neubauer mit der | |
ungefähr gleichaltrigen Grünen-Chefin Ricarda Lang und ich denke: Der | |
Graben zwischen den beiden ist so unüberbrückbar tief wie vor ein paar | |
Jahrzehnten zwischen einer Anti-AKW-Kämpferin und einem CDU-Hardliner wie, | |
sagen wir, Friedrich Zimmermann, seinerzeit Bundesinnenminister. Alles sehr | |
verhärtet. Alles sehr verfahren. Und das ist nur eine Momentaufnahme von | |
vielen sehr ähnlichen in diesen Tagen. Wer heute noch die Annahme hegt, die | |
Grünen seien die Sachwalter einer intakten Ökosphäre, lebt in einer | |
illusionären Vergangenheit, und wer glaubt, mühsamst erkämpfte Fortschritte | |
in der Klima- oder Umweltpolitik seien gesichert, den belehrt alles, was | |
seit dem russischen Überfall auf die Ukraine geschehen ist: Nee, kann alles | |
rückstandslos zurückgedreht werden, null Problemo. Learning No. 1: Kohle, | |
Öl und Gas brennen ganz unabhängig von ihrer Herkunft, und das ist in jedem | |
Fall die Hauptsache. Learning No. 2: Verteidigungsfähigkeit ist nach | |
übereinstimmender Auffassung aller Repräsentantinnen und Repräsentanten des | |
Volkes sowieso die Zukunft. Und eben nicht dieser Umweltkram, mit dem man | |
die letzten Jahrzehnte vertändelt hat. | |
Wie leicht und flott geht doch so ein Rollback, und wie leicht kommen | |
manichäische Weltsichten und schlichteste politische Optionen zurück, ohne | |
jede Realangst vor einem bösen Ende. Da wundert es mich nicht, wenn | |
verzweifelte letzte Generationäre ihren Protest eskalieren und genauso | |
wenig, wenn sie von interessierter Seite kriminalisiert, gar als | |
»Terroristen« bezeichnet werden, übrigens ganz ungegendert. Hier haben sich | |
in verschiedenen Abteilungen der real existierenden Demokratie Verhärtungen | |
gebildet, die den Raum des Politischen schrumpfen und den des Handelns | |
verdampfen lassen. Die Demokratie, die ja immer auch von der Aussicht auf | |
ein gemeinsames Besseres und von dem wohlmeinenden Streit lebt, wie das zu | |
erreichen ist, erleidet in der allgemeinen Erstarrung Schaden. Ich habe das | |
Gefühl, dass gerade etwas zerbricht, nämlich die für jede Demokratie | |
existenzielle Aussicht auf eine bessere Zukunft, die gemeinsam hergestellt | |
wird. | |
## Das Politische spielt sich dazwischen ab | |
Tatsächlich gibt es keine Partei, in der die Notwendigkeiten einer | |
polykrisenhaften Gegenwart ernst genommen werden, geschweige denn Zukünfte | |
gedacht werden, in denen man unter verschärften klimatischen Bedingungen | |
immer noch zivilisiert – also unter den Rahmenbedingungen einer | |
freiheitlichen Ordnung in sozialer Gerechtigkeit und demokratischer | |
Teilhabe – wird leben können. Eine Sondierung der gegenwärtigen | |
parlamentarischen Landschaft der Bundesrepublik sieht an den Rändern eine | |
zerfallene Linke und eine sich immer noch weiter rechtsradikalisierende AfD | |
– beide komplett aus der Zeit gefallen. Und die Mitte wird heute durch | |
einen in seiner Status-quo-Verhaftung ununterscheidbaren Einheitsblock von | |
CDUCSUFDPGRÜNENSPD (ÜGROKO) gebildet, der jenseits von kosmetischen | |
Unterschieden fürs Wahlmarketing sich vor allem darin einig ist, dass die | |
Zukunft wie jetzt ist, nur ohne CO2. | |
Und wie diese übergroße Koalition am Status quo festgetackert ist, so | |
kleben sich ihre Antipoden wortwörtlich an den Asphalt und an Bilderrahmen | |
– und man sieht mit Erstaunen, dass es erstmals eine soziale Bewegung gibt, | |
die sich an das Bestehende klebt, anstatt es zu verflüssigen. Man muss nur | |
die unlängst von Emmanuel Macron und Olaf Scholz gemeinsam formulierten | |
»sieben strategischen Ziele zur Stärkung der EU« lesen, um zu verstehen, | |
dass Politik für sie kein zivilisatorisches Projekt mehr ist, das auf die | |
Verbesserung der Verhältnisse zwischen den Menschen zielt, sondern eine | |
technokratische Übung zum Erhalt des Bestehenden. Und ihre Gegnerschaft | |
zentriert sich um den Slogan »Paris einhalten« und übersieht dabei gleich | |
drei Dinge: Erstens, dass die 1,5 Grad in diesem Leben nicht mehr | |
einzuhalten sind, zweitens, dass deren Einhaltung eben kein politisches | |
Ziel ist und genau deshalb im Rahmen der bestehenden gesellschaftlichen | |
Naturverhältnisse nicht eingehalten werden kann, und drittens, dass da | |
draußen in der wirklichen Welt vielleicht drei Prozent der Menschen | |
verstehen, was mit »Paris einhalten« wohl gemeint sein könnte. | |
In summa: Dieser betonierten Figuration von horizontloser Politik und | |
politiklosen Protestierenden fehlt der Ernst. Jener Ernst, der erfordern | |
würde, sich von einer ritualisierten Vernünftigkeit zu verabschieden, die | |
auf die Einhaltung von vor zwanzig Jahren verabschiedeten | |
Verkehrswegeplanungen pocht und ebenso von der Verengung politischen | |
Protests auf höchst abstrakte wissenschaftliche Werte. Das Politische | |
spielt sich im Dazwischen ab, das sich zwischen einer sterbenden Kultur der | |
durch billige Energie gespeisten Wachstumswelt und einer noch nicht | |
existierenden Welt konturiert, in der die Menschen aufgehört haben, die | |
Natur und damit sich selbst und das zivilisatorische Projekt zu zerstören. | |
Und die gute Nachricht ist: Es gibt unheimlich viele Leute, die genau das | |
verstehen. Das sind die, die in den Umfragen zu Protokoll geben, dass sie | |
ein Tempolimit wollen, mehr Steuern für die Reichen, weniger Waffen oder | |
dass sie das Anliegen der »letzten Generation« verstehen, nicht aber ihre | |
Methoden. Die Bücher kaufen, versuchen, ihren Alltag nachhaltiger zu | |
gestalten und einigermaßen okay zu sein in politischen Verhältnissen, die | |
es ihnen echt schwer machen, okay zu sein. | |
Meine These: Wir haben eine riesengroße Gruppe politisch heimatloser | |
Menschen in diesem Land – ich nenne sie »die guten Leute«. Und genau diese | |
Leute sind es, die sich im Raum zwischen der ÜGROKO und der »letzten | |
Generation« bewegen, die die Probleme ernst nehmen und angehen möchten, die | |
dafür aber einstweilen weder ein Format noch eine Partei haben oder finden. | |
Und damit ist die Aufgabe benannt, der sich die taz FUTURZWEI in den | |
kommenden Ausgaben widmen möchte: Wir interessieren uns für jene, die die | |
Lage der Zukunft ernst nehmen und bereit sind, ihr Handeln zu verändern, | |
privat und professionell. Und wir möchten dazu gedankliche Hilfestellung | |
geben, vom Beton zurück zur Zukunft zu kommen – mit Schwerpunkten zu | |
Protest, Ökonomie der Endlichkeit, Frieden, Klimagerechtigkeit und nächste | |
Aufklärung. Wir wollen zusammen mit einer sich gerade bildenden Gruppe von | |
Menschen, die es ernst meinen, an der Verflüssigung und Vitalisierung der | |
verhärteten und verfahrenen Gegenwart arbeiten und unser Magazin als | |
Einladung an die Guten verstehen, dabei mitzumachen. | |
[2][Harald Welzer] ist Herausgeber von taz FUTURZWEI. | |
9 Mar 2023 | |
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## AUTOREN | |
Harald Welzer | |
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