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# taz.de -- schlagloch: Wider den Fatalismus
> Wenn ohnehin alles schon zu spät wäre, könnten wir uns die Mühe gleich
> sparen. Ist es aber nicht und Panikmache allenfalls kontraproduktiv
Zu spät“, sagte die Frau im Radio. „Es ist zu spät.“ Die Politikerin
wiederholte ihre Klage ein Dutzend Mal. Um das Zögern des Bundeskanzlers
bei [1][Panzerlieferungen] anzugreifen. Auf Kosten der deutschen Sprache,
denn wenn etwas zu spät ist, kann man es auch gleich bleiben lassen. Wer zu
spät zum Bahnhof kommt, verpasst den vorgesehenen Zug. Endgültig. Aber es
gibt – bei der Bundesbahn wie auch im richtigen Leben – meist einen anderen
Zug, einen nächsten. Laut Fahrplan und Lebenserfahrung. Einen Zug, in den
man trotz vorangegangenen Gejammers einsteigen wird.
Wir sind derartige Hysterisierung inzwischen gewohnt. Seit einigen Jahren
mit endzeitlichem Horizont. Ob beim Krieg gegen die Ukraine oder im
[2][Kampf gegen die Klimazerstörung], stets handelt es sich um unsere
letzte Chance. Um einen finalen Showdown mit dem Schicksal. Als spielten
wir beim Poker all-in. Ob es um unsere Freiheit oder das Überleben der
Menschheit geht: It’s now or never!
Das Endgültige zeichnet sich dadurch aus, dass es selten vorkommt – die
Apokalypse hat ein solides Alleinstellungsmerkmal. Das Hierundjetzt
hingegen wiederholt sich unzählige Male, täglich, stündlich,
augenblicklich. Es eignet sich schlecht zur Überdramatisierung, zur
existenziellen Reizüberflutung. Und die Gelassenheit, die sich aus dem
Wissen um eine weitere Chance ergibt, ermöglicht einen aufgeklärteren
Diskurs als das Drohen mit dem Weltuntergang, das uns in die Arme der
Alternativlosigkeit treiben soll.
Strukturell ist das Kröchsen der Krähen von allen Kriegstürmen herab dem
Sirenengeheul an Bord des [3][untergehenden Planeten Erde] ähnlich.
Natürlich bin auch ich angesichts der Faktenlage überzeugt, dass wir nur
durch radikale Transformation schwerste ökologische Schäden vermeiden
können. Weder technologische Lösungen noch grüner Habitus werden uns dabei
wesentlich helfen. Aber ich bezweifle, angesichts der Erfahrungen der
letzten Jahre, dass krypto-religiöser Alarmismus einen wertvollen Beitrag
leistet.
Zumal die apokalyptische Erwartung wenig mit der Realität zu tun hat.
Unsere Freiheit wird natürlich nicht nur [4][in der Ukraine verteidigt].
Zum einen, weil sie sich vieler anderer Angriffe erwehren muss (das
Erstarken autoritärer und repressiver Kräfte, Vermögenskonzentration,
Überwachungskapitalismus, die globale Ungerechtigkeit usw.). Zum anderen,
weil es gute Gründe gibt zu bezweifeln, dass eine geschwächte Armee, die
nicht einmal einige Provinzen des Nachbarlandes okkupieren kann, in
absehbarer Zeit Länder der Nato angreifen oder gar besetzen wird.
Ähnlich verhält es sich bei den ökologischen Herausforderungen. Die Erde
wird nicht untergehen, sondern wenn überhaupt die Menschheit. Das Gleichnis
von der Arche Noah, das uns hierzulande stark geprägt hat, entstand in
einer Wüste, wo es wenige Tiere gab. Die Indigenen im Amazonas, umgeben von
allem, was fleucht und kreucht, wären nie auf so eine Geschichte gekommen,
weil sie wussten, dass es auch Tiere im Wasser gibt. Jede Dystopie trägt
ihre eigenen Scheuklappen. Der Planet wird uns – wenn nötig – abschütteln
wie eine lästige Erkältung und ohne uns weiter existieren. Und wer die
Natur liebt oder verehrt, wird diese Aussicht vielleicht als beglückend
empfinden – schließlich ist schwer erträglich, dass wir das Wunder des
Urwaldes zerstören, um veganen Käse zu produzieren. Was untergehen könnte,
ist unsere dekadent-destruktive Lebensweise.
Panische Zuspitzungen verhindern, dass wichtige Entwicklungen Beachtung
finden. Ein Beispiel hierfür war die [5][Berichterstattung über Lützerath].
Die Medien servierten uns ein „High Noon in Niederrhein“: Bagger gegen
Baumhäuser. Und übersahen dabei, dass sich dort lebendige und belebende
Formen eines alternativen Miteinanders bildeten, wie mir drei
Teilnehmerinnen erzählten. Das selbstorganisierte Wirken von Tausenden von
Menschen (ein beeindruckendes Panorama der Klimabewegung von gemäßigt bis
radikal), die auf basisdemokratische Weise ein funktionierendes Kollektiv
formten.
Die Küche für alle musste auf die Teller gebracht, ein hierarchiefreies
Plenum moderiert werden. Übungen in Zukunft, Aussichten auf Utopie. Wenn
von einem Kristallisationspunkt gesprochen wurde, so meinte das auch die
Errichtung eines Labors der Solidarität, einer lokal fokussierten
Universalität. Es gab, so berichten alle drei Aktivistinnen, ein Gefühl der
Dringlichkeit, aber nicht der Panik. Dieses Zurückerobern von Freiräumen
ist Teil des utopischen Projekts, das jeder wirklichen Veränderung
vorausgeht. Das verstehen die führenden Asphaltköpfe der Grünen nicht. Es
geht nicht um legalistische Sachzwänge, es geht um ein Gelegenheitsfenster,
inmitten von Zerstörung etwas Neues erblühen zu lassen, und somit den Hauch
einer anderen, besseren Heimat.
Da die Apokalypse nur apodiktisch funktioniert, unkte Nato-Generalsekretär
Jens Stoltenberg vor Kurzem, die vereinbarten zwei Prozent (des BIP) an
Militärausgaben würden nicht ausreichen. Kein Wunder, dass eine wichtige
Publikation von unseren Medien geflissentlich übersehen wurde, der Bericht
„Climate Collateral“ des renommierten „Transnational Institute“ – im
Untertitel: „[6][wie Militärausgaben die Klimakrise beschleunigen]“. Diese
fundierte Analyse beginnt mit dem Satz: „Die reichsten Länder, die am
meisten für die Klimakrise verantwortlich sind, geben mehr für Militär als
für Klimaprojekte aus.“ Und belegt danach ausführlich, wie ökologisch
katastrophal Militärbudgets und Kriege sind. Bemerkenswert, dass in diesem
Fall eine apokalyptische Beschwörung eine andere potenziert.
Vielleicht bin ich ein vorgestriger Romantiker, aber mir scheint, wir
benötigen bei politischen Diskussionen und Kämpfen eine gute Mischung aus
Sorge und Zuversicht, aus Trauer und Hoffnung. Und keine Prediger, die mir
schon früh am Morgen ins Ohr brüllen, es sei „zu spät“.
15 Feb 2023
## LINKS
[1] /!5910797&SuchRahmen=Print
[2] https://www.geo.de/natur/nachhaltigkeit/23295-rtkl-klima-fatalismus-es-ist-…
[3] /!5008262&SuchRahmen=Print
[4] /!5008150&SuchRahmen=Print
[5] /!5896252&SuchRahmen=Print
[6] https://www.tni.org/en/publication/climate-collateral
## AUTOREN
Ilija Trojanow
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